Leseproben und Projektbeschriebe

Einfach mal die Welt entdecken

Den Job kündigen, Haushalt aufgeben und mit den Kindern davonziehen: Immer mehr Eltern erlauben sich längere Auszeiten und reisen durch die Welt. Drei Familien erzählen, worauf es ihnen dabei ankommt.

Das Skype-Fenster zittert erst. Dann gibt es den Blick frei, ins Innere eines Campers. Vor der Kamera steht ein Kind: «Schau, ich habe einen Surfbrett-Edelstein», sagt der vierjährige Ezra und streckt der Linse einen grauen länglichen Stein entgegen, «und heute Morgen habe ich ein Schloss gebaut», erzählt er, «aus Bechern, Muscheln und Sonnencrème». Ezra ist auf grosser Reise. Seine Eltern haben bewusst nur wenige Spielsachen mitgenommen. «Wir legen unseren Fokus auf Bewegungsspiele und kreatives Schaffen», sagt die Mutter Riana Rigamonti, 33. Deshalb habe sie auch reichlich Bastelmaterial dabei.

Sie ist mit ihrem Mann, Päde Huber, 37, mit Ezra und dem neun Monate alten Vito bereits seit Monaten unterwegs. Sie stammen aus Bertschikon ZH. Via Skype zeigt die Familie, wie ihr momentaner Standort in Portugal aussieht: Die Kamera schwenkt über blauen Himmel und mediterrane Macchia. Päde und Riana sind losgezogen, weil sie sich aufs Wesentliche reduzieren und dabei die Welt entdecken wollen. Weil sie gerne surfen, Streetart-Projekte realisieren und ihnen gemeinsame Familienzeit wichtig ist. Inspiriert hat sie der Dokumentarfilm „Tomorrow – die Welt ist voller Lösungen“ Dieser gab den Ausschlag für die lang vereinbarte Reise. Der Film zeigte es ihnen vor: Es gilt, neue, nachhaltigere Lebensmodelle, klügere Produktions- und Anbauweisen zu finden. Baldmöglichst.

Diese suchen Päde und Riana nun zwischen der Nordseeküste, Belgien, Frankreich, Spanien und dem «Ecovillage Terramada» in Portugal, wo sie derzeit weilen. Hier lernen sie gerade, wie dank Permakultur nachhaltige, naturnahe Kreisläufe geschaffen werden können. Ein Jahr soll ihre Reise dauern, sofern die budgetierten 20'000 Franken reichen. Vielleicht auch länger?

Beide sind schon in früheren Jahren oft und lange gereist. Vor allem Päde hat viel Erfahrung darin. Mutig sei er, ein starker Beschützer, sagt Riana. Zu wissen, dass sie sich auf ihn verlassen könne, habe ihr Mut für ihr gemeinsames Reise-Projekt gemacht. Zudem hat er einen Beruf, den er auch auf Reisen immer wieder ausgeübt hat: Er ist Zimmermann, sie ist Sozialarbeiterin. Beide verstehen sich als moderne Christen. Darin wurzelt ihr Grundvertrauen und der Wunsch, sich für konstruktive Lösungen zu engagieren.

Nennen wir sie hier der Einfachheit halber die «Surfer», denn wir werden noch zwei andere Reisefamilien vorstellen: Die «Minimalisten», die mit nur vier Fahrradtaschen durch Costa Rica und Panama geradelt sind sowie die «Worldschooler» («Weltschüler»), die schon seit Jahren auf Weltreise sind. Die Beweggründe dieser drei Familien sind unterschiedlich, eines aber haben sie gemeinsam: Sie haben gewagt, wovon viele Schweizer Familien träumen: Alles hinter sich lassen, sich Zeit nehmen, die Welt entdecken.

Dazu braucht es gewisse Ersparnisse, berufliche Auszeiten oder Jobs, die man auch unterwegs ausüben kann. Ferner sind nötig: gute Organisation, Vertrauen in verlässliche Familienbeziehungen – und Mut. Wie es darumsteht, hat die repräsentative Studie «Mut in der Schweiz» der Zürcher Forschungsstelle «sotomo» 2018 untersucht: Sie fragte knapp 13'000 Menschen, was diese gerne tun würden, wofür ihnen aber der Mut fehlt. An erster Stelle stand die Antwort: «Reisen». Wie weit würde man indes gehen, um diesen Traum zu realisieren? Die Forschungsstelle fragte ihre Studienteilnehmer daher auch, was sie davon halten, ihre Arbeitsstelle ins Blaue zu kündigen. Mehr Menschen (28 Prozent) hielten dies für «leichtsinnig» als für «mutig» (16 Prozent). Lebensentscheide mit Unsicherheitspotenzial liegen den Schweizerinnen und Schweizern nicht allzu sehr.

Zwei, die ins Blaue gekündigt haben, sind Michael und Mirjam Mettler, beide 32: Sie lebten bis 2017 in Schafhausen im Emmental. Vor ihrer geplanten zweijährigen Reise durch Zentralamerika und die Karibik liessen sie sich sogar ihre Altersvorsorge auszahlen. «Dumm ist das nur aus der Sicht von Schweizern», findet Michael – notabene ein ehemaliger Versicherungsmitarbeiter – und bezieht sich dabei auf die hiesige Mentalität, Absicherungen über alles zu stellen, «ich hingegen sage mir: Geld kommt wieder, Zeit nicht».

So lösten sie vor ihrer Reise ihren Haushalt auf, verschenkten Auto, Spielsachen und Möbel und reduzierten ihre Besitztümer auf vier Fahrradtaschen. «Wenig zu haben, das gibt Freiheit», sagt Mirjam Mettler. Auf zwei Velos, mit Elea, 4, im Kindersitz und Nathan, 6, auf dem Schattenfahrrad fuhren sie durch Costa Rica und Panama. Dabei lernten sie, ihren Konsum bewusst einzuschränken und nachhaltiger zu leben. Von dieser leichten Lebensweise beseelt, lebt die Familie nun auch nach ihrer Rückkehr in ihrer jetzigen Mietwohnung so spartanisch wie nur möglich.

Die Minimalisten wurden für ihren Mut belohnt, so sind sie sich einig, selbst wenn sie schliesslich «nur» sechs Monate unterwegs waren. Inzwischen sind sie unweit von Basel in Bad Säckingen in Deutschland sesshaft geworden. Im Gespräch via Skype zeigt die Kamera auch auf Nathan und Elea. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich Nathan dem Skype-Interview stellt. Denn alles Ungewohnte stresst ihn mehr als ein gewöhnliches Kind: Er leidet am vererbbaren Gendefekt Fragiles-X-Syndrom. Dieses wirkt sich bei ihm aus wie leichter Autismus. «Seine Behinderung gab uns vor der Reise die meisten Bedenken auf», erzählt Mirjam Mettler, die einen Bachelor in Psychologie hat. Würde ihm eine Reise mit ihren Unvorhersehbarkeiten schaden oder dienen?

Rückblickend sagt sie: «Die Reise war für ihn ein wirksames Training. Nathan ist offener geworden und lernt immer besser, aus seinen Krisen das Beste zu machen». Vater Michael fügt ein Argument hinzu, das für alle Reisefamilien gilt: «Auf der Reise sind wir Eltern Tag und Nacht mit unseren Kindern zusammen. Man verbringt viel mehr innige Zeit, als wenn man zu Hause lebt und auswärts arbeitet». Diese Nähe ist eine Herausforderung, da sie auch beengend sein kann. Aber sie schweisst zusammen, stärkt das Vertrauen untereinander und in sich selbst.

Dauerhaft mit den Eltern zusammen unterwegs sein: Vincent, 5, und Olive, 2, kennen nichts Anderes. Die Kinder unserer Basler «Worldschooler»-Familie sind zeitlebens mit ihrer Mutter Corina 38, und ihrem Vater Yves Rechsteiner, 44, auf Weltreise. Ihr Instagram-Account zeigt unter den aktuellen Einträgen noch Bilder von einem Indianer-Dorf in den Anden Perus. Weiter zurück folgt ein bunter Reigen aus Thailand, Spanien, Indien, Ecuador, Mali, Vietnam, Kambodscha, Malaysia, Kalifornien – oder auch mal aus Basel, wo die Familie herkommt. Dort allerdings hat Yves nur selten gelebt. Als Sohn reisefreudiger 68-er-Hippies war auch er die meiste Zeit seines Lebens in der Welt unterwegs.

Sein Sohn Vincent macht es ihm nach: Seit der Junge vier Jahre alt ist, kann er lesen und schreiben. Er spricht fliessend Englisch und Deutsch und lernt derzeit Spanisch. Pfeilbogen schnitzen, tanzen, basteln, stundenlang mit sich alleine spielen kann er auch gut, so erzählen die Eltern im Skype-Interview in einem peruanischen Hotelzimmer. Und der Fünfjährige schreibt gerne «Bücher», ähnlich wie sein Papa, der als Schriftsteller den Lebensunterhalt der Familie verdient. Vincents Mutter ist Lehrperson für Kindergarten und Primarschule. In ihrem Basler Umfeld musste sie sich öfter kritische Fragen anhören: Was tut ihr mit der Reiserei den Kindern an?!

Die «Worldschooler»-Eltern sind indes davon überzeugt, ihren Kindern die beste Bildung und den wertvollsten Lebensstil zu schenken: Indem sie mit ihnen die unterschiedlichsten Kulturen erkunden, ihnen also «Weltschulung» ermöglichen und sie bewusst nicht in eine konventionelle Schule schicken. Inspiriert dazu haben sie die Schriften des bekannten französischen Freilerners, Musikers und Autors André Stern. «Man fragte uns auch schon skeptisch, ob unsere Kinder so ein Leben eigentlich wollten», erzählt Corina, «da frage ich jeweils zurück: Habt ihr denn eure Kinder gefragt, ob sie zur Schule gehen wollen!?»

Die Frage nach der Schulbildung ist denn auch eines der zentralen Themen, mit dem sich reisende Familien auseinandersetzen: Viele umschiffen es, indem sie losziehen solange die Kinder noch im Vorschulalter sind. Andere ergattern Bewilligungen für Auszeiten von der Schweizer Schule oder sie schicken ihre Kinder im Ausland vorübergehend in eine internationale Privatschule. «Es gibt viele Lösungen», sagt Monika Keller von der Rauszeit Agentur in Basel. Sie berät Familien, die sich für eine Auszeit optimal vorbereiten wollen (siehe Interview). Keller weiss, wovon sie spricht, weil sie sich, zusammen mit ihrem Partner, schon mehrere erfolgreiche Auszeiten gegönnt hat.

So ist es denn auch von Vorteil, sich bei jenen Menschen Rat zu holen, die den Weg bereits gegangen sind. Minimalist Michael: «Ich frage ja auch nicht den Metzger um Hilfe bei der Steuererklärung!» Auch mag der pragmatische Ansatz von Surfer Päde dienlich sein: «Man muss nicht gleich im schwierigsten Land beginnen», sagt er. Schliesslich ist jede kleine Reise ein Schritt, der Mut machen kann für mehr.

 

Interview mit Monika Keller, Rauszeit Agentur GmbH, Basel

Frau Keller, nicht jeder traut sich zu, den Haushalt aufzulösen, Job zu kündigen und die Kinder selbst zu unterrichten. Was raten Sie in einem solchen Fall?

Keller: Es gibt viele Lösungen: Man kann seine Wohnung zum Beispiel untervermieten, man kann mit dem Chef ein Sabbatical aushandeln und die Kinder mit Hilfe des Projektes «Schule im Koffer» den nötigen Schulstoff aufarbeiten lassen. Dabei unterstützt ein interdisziplinäres Team die reisenden Kinder online beim Lernen.

Was riskiert man, wenn man wegen eines Sabbaticals im Job fehlt?

Nun es gilt je nach Charakter die beruflichen Risiken abzuwägen, wenn man kündigt oder sich einen Sabbatical leistet. Ich als Job-Coach sehe grosse Chancen darin: Auf Reisen tankt man auf, wird inspiriert und kommt in der Regel dynamischer, gesünder und kreativer an die Arbeit zurück. Das zurückbleibende Team wiederum muss sich während der Abwesenheit des Reisenden neu organisieren. Das kann lehrreich und fruchtbar sein. Heutzutage sind Auszeiten im Lebenslauf kein Killer mehr. Im Gegenteil: Man hält sie für mutige, lehrreiche Phasen.

Grosse Reisen können Kinder überfordern. Wie unterstützen Eltern ihre Kinder dabei?

Indem man sie gut vorbereitet, ihnen etwa Filme von den Reisedestinationen zeigt. Es hilft auch gegen Heimweh, wenn die Kinder via Internet mit ihren Freunden in Kontakt bleiben können. Bei Familienreisen ist weniger mehr: Also Reiseroute nicht überfrachten, längere Aufenthalte einbauen und auch unterwegs gewisse Tagesstrukturen aufrechterhalten!

Text: Gabriela Bonin
(Die Autorin war mit ihrem Mann und drei schulpflichtigen Töchtern mehrmals über längere Zeiträume hinweg unterwegs: In Italien, auf den Philippinen und auf Bali in Indonesien.)

Links

Treffpunkt für Reisefans. Das nächste Fernwehfestival findet vom 25. – 27. Okt. 2019 in Bern statt:  https://www.fernwehfestival.ch/

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