Leseproben und Projektbeschriebe

Glut im Blut

Sie ist die einzige Köhlerin in der Schweiz und einzige Frau in Europa, die mit ihrem Handwerk auf Stör geht. Als Bewahrerin ihres Berufe hat sich Doris Wicki über die Landesgrenzen hinaus einen Ruf gemacht – trotz anfänglichem Widerstand aus ihrer Zunft.

Nachts ist es still im Wald, aber nicht lautlos. Doris Wicki hört ein Rascheln, ein Rauschen, dann ein Knacken im Geäst. Die Bäume hinter ihr sind schwarz. Doch vor ihr auf der Lichtung glüht ein Kohlenmeiler, der von einer Lampe beleuchtet wird. Die 61-jährige Köhlerin will ihn jederzeit gut sehen können. Sie schläft in einem Forstwagen nahe des Meilers, stellt regelmässig den Wecker. Alle zwei Stunden steht sie auf und kontrolliert die Glut. «Manchmal springt ein Reh davon, ein Kauz ruft oder eine Eule flattert vorbei», sagt sie. «Die Stimmung ist unbeschreiblich.» Der Schlafmangel mache ihr keine Mühe, sie sei gesund, robust. Und sie ist es sich gewohnt, allein draussen zu sein. «Schon als Jugendliche musste ich nach jedem Ausgang einen Kilometer durch den Wald stapfen, bis ich wieder daheim war.»

Dieses Daheim lag im luzernischen Bramboden, einem Weiler der Gemeinde Romoos, wo Doris Wickis Brüder noch immer wohnen. Sie gehören zu den letzten elf Entlebucher Männern, die in der Schweiz gewerbsmässig köhlern – also aus Holz Kohle herstellen. Von ihnen hat Doris Wicki das Traditionshandwerk 2004 gelernt. Seither lässt es sie nicht los. Sie ist die einzige professionelle Köhlerin in der Schweiz. Regelmässig verantwortet sie einen eigenen Meiler. Zudem ist sie Vizepräsidentin des Europäischen Köhlerverbandes und die einzige Frau in Europa, die mit dem Handwerk auf Stör geht: Als Event-Köhlerin zeigt sie an Gemeinde- oder Vereinsfeiern, wie Kohle entsteht.

Bramboden mitten im Napfgebiet auf gut 1000 Meter über Meer erreicht man ab Entlebuch über eine kurvige Strasse. Sie verläuft durch Waldstücke mit mächtigen Buchen und Tannen, die seit Jahrhunderten den Bauern ein Einkommen sichern, bezwingt steile Hügel und führt sicher an schroffen Schluchten vorbei. Diese abgeschiedene, urige Landschaft hat Doris Wicki geprägt, hat sie stark und unabhängig gemacht. Für den Schulweg musste sie einst zu Fuss je 200 Höhenmeter überwinden – auch bei Wind und Wetter. Als Bauernkind lernte sie, hart zu arbeiten.

Nebst der Event-Köhlerei führt Doris Wicki heute in Bramboden zusammen mit einer Kollegin das Pilgerstübli bei der Antoniuskirche. Das kleine Lokal ist der einzige Treffpunkt im Ort, wo bloss 57 Menschen leben. Ursprünglich ist sie gelernte Coiffeuse mit Meistertitel, hat später während einiger Jahre geosolare Wärmepumpen und Isolationen auf dem Bau verlegt, in Restaurants gekocht oder zur Kettensäge gegriffen, um zu lernen, wie man Holzskulpturen sägt. «Ich lerne vieles, indem ich es einfach mache», sagt Doris Wicki.

Sie sitzt auf der Holzbank vor dem Pilgerstübli und erzählt, wie sie zur Event-Köhlerin wurde. Angefangen hat sie 2005, nachdem ihre Brüder, die Köhler Martin und Pius Wicki, immer wieder angefragt worden waren, ob sie ihr Handwerk in auswärtigen Gemeinden vorführen könnten. Doch die beiden Bauern mussten absagen, auf ihren Höfen gab es zu viel zu tun. «Mach du das doch allein», sagten sie zur Schwester, «du kannst das genauso gut.» Doris Wicki willigte ein.

Doch nicht alle Männer im Entlebuch unterstützten sie, so wie es ihre Brüder taten. Zwei Skeptiker im lokalen Köhlerverband stellten sich sogar gegen ihre Pläne: Eine Frau, die köhlert? Die als Event-Köhlerin auch noch ihr lang gehegtes Wissen aus dem Entlebuch heraustragen will? Das geht nicht! Die beiden stemmten sich heftig gegen das Vorhaben. Doris Wicki aber liess sich nicht ausbremsen. «Ich wollte mit auswärtigen Events unbedingt mithelfen, das wertvolle immaterielle Kulturgut der Holzköhlerei zu erhalten», sagt sie. So verabschiedete sie sich kurzerhand aus dem lokalen Verband – «dem Frieden zuliebe», wie sie heute sagt – und ging trotzdem auf Stör. Zudem entdeckte sie im Internet den Europäischen Köhlerverband EKV, wurde dort 2006 aufgenommen und 2017 zur Vize-Präsidentin berufen. «Heute bin ich dankbar, dass es so gekommen ist», sagt sie. Der EKV mit Sitz in Deutschland will das Köhlerhandwerk bewahren, widmet sich der Pflege von Brauchtum und Kultur in jenen Regionen Europas, in denen das Köhlerhandwerk noch erhalten ist, und strebt die Zusammenarbeit mit Museen, Fachverbänden, Organisationen und wissenschaftlichen Einrichtungen an – zum Bespiel mit dem Museum Rietberg in Zürich. Dieses hält regelmässig japanische Teezeremonien ab und benötigt dafür von Doris Wicki produzierte Holzkohle. Sie stammt nicht wie üblich aus dicken Holzstämmen, sondern aus dünnen Ästen, die noch ganz kleine Jahresringe haben. Daher glüht die Astkohle besonders lange. Auf ihr wird das Teewasser gekocht.

Jedes Jahr besucht Doris Wicki die Präsidiumssitzungen des EKV und die europäischen Köhlertreffen. «Wir sind wie eine grosse Familie, ich fühle mich anerkannt», sagt sie. Auch im Film «Köhlernächte», der 2017 in den Kinos lief, kam Wicki zu Ehren. Darin sagt der Romooser CVP-Nationalrat und einst höchste Schweizer Ruedi Lustenberger sichtlich stolz, Doris Wicki sei «ein bisschen ein Sinnbild der Eidgenossenschaft: Traditionell verankert, aber auch weltoffen». In Romoos weiss man Doris Wicki mittlerweile als Vorzeige-Köhlerin zu schätzen: Seit 2018 engagiert sie sich als Mitglied des Fördervereins Köhlerei Romoos und ab Mitte Juli zeigt sie in Bramboden eine Ausstellung über das Köhlerhandwerk.

Am glücklichsten aber ist sie, wenn sie köhlert – diesen Sommer etwa am Rande von Beromünster LU, wo sie das Handwerk tagsüber vielen neugierigen Zuschauern erklärte. Selbst nach einer Nacht mit Schlaf im Zwei-Stunden-Takt steht sie meist schon um fünf Uhr auf, weil sie den Meiler am liebsten in der Früh bearbeitet. Auf meditative, beinahe rituelle Weise arbeitet sie sich dann ein, zwei Stunden Schicht um Schicht durch die mächtige, rauchenden Holzbeige, sticht neue Luftlöcher und stopft alte Löcher. «Das ist harte, schwere Arbeit, aber es ist fantastisch.» Es sei, als ob der Meiler durch die Glut beseelt werde und ein Wesen bekomme, sagt sie. «Ich spüre ihn, ich merke, was er braucht.» Er spukt, raucht, frisst auch mal Kohle weg. Er hat seine Macken. Und Doris Wicki führt ihn.

Kohleproduktion in der Schweiz

In der Schweiz werden jährlich 10 000 Tonnen Holzkohle hauptsächlich zum Grillieren verbrannt. Der überwiegende Teil wird fabrikmässig hergestellt und kommt aus den Oststaaten. Doch hundert Tonnen stammen aus dem Napfgebiet im Entlebuch. Sie werden von den letzten Köhlern in Romoos hergestellt. Doris Wicki ist die einzige Köhlerin der Schweiz. Um aus dem im Kohlemeiler gestapelten Holz Kohle zu machen, wird der Meiler entzündet und schwelt dann je nach Grösse bis zu zwanzig Tage und Nächte, bis das Holz verkohlt ist. Die Köhler lenken das Feuer und leiten die Luft, indem sie von oben nach unten immer wieder neue Löcher in die Hülle stechen. Alle zwei Stunden kontrollieren sie – bei Tag und bei Nacht – die Glut. Ab und zu bespritzen sie den Meiler mit Wasser oder füllen neues Brennmaterial ein. Die Kohle, die durch den Verbrennungsprozess entsteht, ist ein reines Naturprodukt und wird von Hand aus dem Haufen geschaufelt.

Köhlerei erleben

Noch bis Mitte Oktober zeigt Doris Wicki ihre Ausstellung «Vom Baum zur Kohle» im oberen Stock des Pilgerstüblis.

Tel. 041 484 30 21.

Die nächste Köhler-Woche veranstaltet sie vom 4. bis 11. September in Wislikofen AG. Interessierte können ihr bei der Arbeit zuschauen.

www.event-koehlerei.ch

 

Kohle kaufen

Die Holzkohle aus den jahrhundertealten Napfköhlerei in Romoos wird ausschliesslich bei OTTOS verkauft. www.ottos.ch

 

Weitere Infos

www.foerderverein.koehlerei.ch

www.koehlerei.ch

www.koehlernaechte.ch

 

 

 

Köhlerin Doris Wicki

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