Leseproben und Projektbeschriebe

Reise in die Vergangenheit

Einst Deutschland, nun längst Polen: Im polnischen Dorf Idzbark hat einst ihr Vater gelebt, damals hiess es noch Hirschberg. Gabriela Bonin geht mit ihren Eltern auf Spurensuche.

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Für einen Moment wähnte ich mich in Amerika, im Land der unendlichen Weiten, dem Mythos der Freiheit: Es war ein milder Sonntag im Mai…

Für einen Moment wähnte ich mich in Amerika, im Land der unendlichen Weiten, dem Mythos der Freiheit: Es war ein milder Sonntag im Mai, wir hatten das "Holiday Inn" vor einer Stunde verlassen und endlich den Highway gefunden. Nun rollte der Mietwagen vorbei an flachem, fruchtbarem Ackerland, aus dem Fonds schepperte südamerikanische Musik, über dem Horizont hing eine milchige Sonne… Doch der Highway sollte uns nicht in die Weite geleiten.

Vielmehr würde er uns in den 2. Weltkrieg befördern, zurück zu zerbomten Dörfern, hungernden Flüchtlingstrecks, vielen toten Menschen. Zurück in eine Welt des Entbehrens, die wir Kinder des fetten Kapitalismus' nie gesehen hatten: in das Ostpreussen von Januar 1945: Eisig kalt, verzweifelt, dem Wahnsinn des Krieges erlegen. Wir fuhren auf der Europastrasse Nr. 7 von Warschau (Warzawa) nach Danzig (Gdansk) und ahnten noch nichts.

Mein Bruder Michael, 37 und ich, Gabriela, 32, sassen vorne im Wagen, stolz wie kleine Kinder, weil wir unserem 67jährigen Vater diese Reise zum Geburtstag geschenkt hatten: Eine Familienreise in seine alte Heimat, ins "Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen…", wie unsere deutschen Onkel und Tanten an den Familienfeiern immer wieder mit geschwollener Brust und feuchten Augen gesungen hatten. Das Dorf Hirschberg (Izbark) bei Osterode (Ostroda) war unser Ziel – Vaters Geburtsort. Mutter, 65, kuschelte sich mit Vater hinten im Wagen, war stiller als wir, ihre Fröhlichkeit schien etwas bemüht, ihre Ahnung wohl grösser als unsere.

Auch sie stammt aus Ostpreussen, genauer aus Waplitz (Waplewo). Vater hatte sich gewünscht, dass sie mit auf die Reise käme, schliesslich konnten die beiden am Vorabend in Warschau ihren 40. Hochzeitstag feiern. Sie hatten sich dafür herausgeputzt, als sei es ihr erster Hochzeitstag, hatten sich auf dem Schlossplatz wie Frischverliebte geküsst und gestrahlt, als ob sie sich noch nie übereinander geärgert hätten. Dann luden sie uns ein, ins edelste Restaurant am Marktplatz. "Wahnsinn", sagte mein Bruder später, als wir alleine im Hotelzimmer waren, "kannst du dir vorstellen, über 40 Jahre einen Menschen zu lieben…?" "Na ja, schau dir doch unsere Eltern doch an…"

Meine Mutter Inge und mein Vater Fritz kannten sich von klein auf, ihre Familien waren befreundet. Einst, so erzählen sie immer wieder gerne, war das fünfjährige Ingchen weinend im Strassengraben gewackelt, und es war der kleine Fritz, der ihr tröstend die Tränen weggewischt hatte. So war ihre erste Liebe geboren. Fritz war der Schönste, der Liebste – schon damals, pflegt Mutter immer zu sagen. Doch es sollte noch Jahrzehnte dauern, lange Zeit nach ihrer Flucht aus Ostpreussen und der Wiederaufbauzeit in Westdeutschland, bis sich Vater unt Mutter in der Schweiz wiederfanden, heirateten, uns zeugten und Schweizer Bürger wurden.

Nun ging für Vater ein Traum in Erfüllung: Er fuhr mit seiner Familie zurück zu seinen Wurzeln. Einzig unser ältester Bruder konnte nicht mitreisen, das war beruflich nicht möglich. Michael, der schon vor Jahren nach Brasilien ausgewandert ist und in Rio de Janeiro ein Reisebüro führt, und ich, die ich als Ressortleiterin in einer Schweizer Frauenzeitschrift eingespannt war, hatten es indes irgendwie geschafft, diese eine Woche freizubekommen. Das hat Seltenheitswert. Familienferien haben wir zuletzt vor 25 Jahren gemacht.

Links-rechts-und-vorne sollten wir nun schauen, Vater zeigte vergnügt nach da und dort, ständig den Finger irgendwohin weisend, munter erklärend – wo er sonst doch ein so stiller Mann ist. Die Erklärungen fingen bei den Muränen der Eiszeit an und endeten bei Gorbatschovs Perestrojka. Eine Radikal-Geschichtslektion begann, mit Daten, Fakten, Namen – Friedrich der Erste, 1. September 1939, Stalingrad, die "Iwans", wie er die Russen nannte, Panzerbezeichnungen, Göhring, Göbbels, was weiss ich… Mir wurde schon ganz wirr im Kopf. Je länger Vater sprach, desto mehr glitt er von unserem Zürcher Dialekt ins Hochdeutsche.

Mir schien, als nähme er gar wieder den ostpreussischen Singsang unserer verstorbenen Oma an. "Kiiindchän" nicht "Kind" hatte sie jeweils zu uns gesagt und alle Vokale genüsslich gedehnt. "Hunger", rief Michael unvermittelt, nicht zuletzt, um uns eine kleine Lernpause zu gönnen. Wir hielten im "1001 nocy", einer orientalischen Imbissbude, mitten im Niemandsland bei der 07… Draussen auf der Terasse – noch schien die Sonne – futterten wir knusprig-frittierte, fremdartige Fleischbällchen und schlürften starken Kaffee. "Kiiindchään, misst du eessään…" (Kind, du musst essen), spottete mein Bruder und wir prusteten vor Lachen. Das Leben war gut, so fanden wir.

Dann wurde die Landschaft hügeliger, die Wälder dichter, der Himmel dunkler. Es begann zu regnen. Und als wir im Hotel "Anders" in Altfinken (Stare Jablonki) ankamen, stürzte das Wasser mit einer Wut vom Himmel, als ob wir für unseren ganzen Ferienluxus bestraft werden sollten. Oder besser für unsere Verwöhntheit. Denn kaum hatten Michael und ich die Räume betreten, rümpften wir die Nasen: Soll dies das beste Hotel in der Region sein? Alles etwas kahl, unpersönlich, ohne Charme. Vater war begeistert. Mutter fror. War es nicht immer nass und kalt in diesem Land, spotteten wir, gehörte dieses Kahle, Lieblose nicht einfach zur hiesigen Mentalität? Heftiger Protest von Vater und Mutter. Wir schmunzelten.

Abends empfing uns ein wortkarger, mürrischer Kellner, der uns in die hintersten Ecke platzierte und dort vergass. Irgendwann warf er schliesslich doch noch einige Speisekarten auf unseren Tisch, brachte den falschen Wein, und servierte ein Essen, das wir nur Vater zuliebe lobten. Vater schwelgte in kulinarischen Erinnerungen, seine Augen leuchteten als er "Hering" sagte, es folgte ein Lächeln zum Stichwort "Bratkartoffeln in Schweineschmalz" und zu "Wildschwein" eine kleine Anektote über wilde Eber im Wald. Und Mutter erzählte, wie die Gänse geweint hätten, als sie sie als Mädchen gewaltsam habe festhalten und stopfen müssen. Da habe sie immer selbst weinen müssen. Ohnehin habe sie als Kind viel geweint.

Mutter war als Scheidungskind mit ihrem Bruder und einer gestrengen Tante aufgewachsen, Vater in einer glücklichen Baumerfamilie mit sechs Kindern. Seine Mutter, unsere Oma, war stets der Meinung, das Ingchen, sei ihres Fritz' ungenügend. Er fand das nicht. Zum Glück. Denn so kamen eines Tages wir Kinder auf diese Welt, genauer gesagt: nach Zürich. Und es gelang unseren Eltern, uns aus den bescheidenen Verhältnissen deutscher Immigranten zu gut gebildeten, gut verdienenden Schweizern zu machen.

Kindheitserinnerungen, Ausländerfeindlichkeit, nationale Identität… Darüber sprachen wir an jenem Abend. Auch über den Unterschied, seine Heimat verlassen zu müssen oder wie im Fall von Michael freiwillig in ein anderes Land auszuwandern. Wie frei wir doch aufgewachsen sind, wurde mir plötzlich bewusst, wie reich auch, obwohl wir in der Schweiz keineswegs der reichen Schicht angehören. Aber mir wurde auch bewusst, dass ich noch nie eine Gans geknuddelt hatte, noch nie im Wald Wildschweine erschreckt oder im See Fische gefischt hatte. Dass ich Städterin das Landleben überhaupt nicht kannte. Die Armut auch nicht. Dass ich dafür viele Leute kenne, die am Ueberfluss ersticken und an den hohen Erwartungen der westlichen Gesellschaft scheitern. Ich dachte an Freunde aus meiner Jugend, die Selbstmord gemacht haben, in psychiatrischen Anstalten gelandet oder an Heroin gestorben sind.

Und warum ist Michael ausgewandert? Weil ihm die Selbstgefälligkeit der Wohlstandsgesellschaft zu schwerfällig ist, zu konservativ. Die Schweizer leben in der starren Angst, auch nur das Geringste ihres Reichtums verlieren zu können. Und Angst ist der Feind des Lebens. Nun, in diesen Tagen sollten wir das Leben der Ostpreussen kennenlernen. Kreuz und quer durchfuhren wir die Gegend, besuchten Gedenkstätten, die Häuser ehemaliger Nachbarn und Verwandten, Vaters einstige Schulhäuser und Mutters Geburtshaus. Wir stiegen Kirchentreppen hoch und Waldpfade hinunter, bewunderten Störche auf Schornsteinen und ausgestopfte Wölfe in regionalen Museum. Wir fuhren nach Danzig, Hohenstein (Olsztynek) und Alleinstein (Olszyn), lernten, dass Kopernikus in der Allensteiner Burg als Astronom gearbeitet hatte, bewunderten Vaters liebsten See, denn Schillingsee, und assen Ente so oft es ging. Unbegreiflich für uns, dass sich Vater immer wieder über Veränderungen wunderte, über neue Bauten und Strassen oder über nicht mehr existente Häuser. "Schaut mal, das sieht ja ganz anders aus…" "Ja, aber sicher Papi, seither sind schliesslich 55 Jahre vergangen."

Aber Vater war geistig in jenes Ostpreussen zurückgekehrt, das er als 15jähriger verlassen hatte. Er war daheim. Und zeitweise im Krieg: "Da, hinter dieser Linde liegen noch zwei tote Deutsche… da haben sie den Onkel So-und-so erschossen… und auf dieser Strasse kamen die Panzer hochgefahren…" Uns schauderte. Es regnete seit Tagen. Wir froren. Hatten irgendwie Heimweh. Noch selten war ich meinen Eltern so nah – und zugleich so fern. Wir fragten uns, was eigentlich Heimat sei… Michael meinte, sie definiere sich zuerst in den ersten 15 Lebensjahren, dort wo man als Kind mit den Eltern lebe. Danach werde die Heimat ortsunabhängig. Dabeim ist man, wo man liebt. Wo man seine Familie und Freunde hat.

Vater hat uns, als wir noch Kinder waren oft vom Krieg erzählt, aber wir verstanden wenig. Nun begannen wir, zu ahnen. Er hatte auch viel von der Natur erzählt, und endlich als an einem Morgen die Wolkendecke aufriss, erlebten wir auch, wie schön sie wirklich war: Der Schillingsee glitzerte tatsächlich kristallen, die Wälder strotzten vor Grün und die Alleen erinnerten an einen Frühling in Frankreich. Wir mieteten Fahrräder und fuhren nach Hirschberg. Wie lieblich, die kleinen Bächlein und Seen, die sanft-friedlichen Hügel, die Ruhe einer Natur, die allen Bösheiten des Schicksals getrotzt hatte. Kann man hier Krieg führen?

Vater hielt auf einer kleinen Anhöhe. Hinter Sträuchern und hohen Gräsern, lugten trostlos einige Grabsteine hervor. Hier lagen Urgrossmutter und Urgrossvater. Behutsam schob Vater die trockenen Zweige von den Gräbern, stellte sich dann davor, senkte den Kopf und faltete die Hände. Wir hielten den Atem an. Es schien, als ob selbst die Vögel schwiegen, und wortlos begannen wir nun alle, Sträucher und Gräser zu entfernen. In dieser Erde lagen meine Vorfahren, diese Hügel erzählten von unserer Geschichte… Mir war, als ob ich mit den dürren Zweigen sogleich auch die Wurzeln meines Daseins berührte.

Im Dorf selbst, musste ich vor dem Tante-Emma-Laden auf die Fahrräder aufpassen. Vor der Tür torkelten einige Männer in zerlumpten Kleidern, einer hatte am Arm eine offene, schmutzige Wunde. Sie waren jung, 35 vielleicht und doch alt. Sie fragten mich unverständliche Dinge auf polnisch und lachten, zu ihren Füssen standen halbleere Schnapsflaschen. Magere Hunde kläfften, irgendwo krähte ein Hahn, ansonsten kein Laut. Als ob das Dorf ausgestorben wäre. Gleich nebenan besuchten wir Günter, einen ehemaligen deutschen Schulkollegen meines Vaters, dessen Eltern nach dem Krieg hier blieben und polnisch wurden. Günter öffnete zittrig die klapprige Holztüre, mimte ein schwaches Lächeln, "ach nein, schau an, der Fritz…! " Sein Sohn, etwa in meinem Alter, fummelte an einem verrostete Mofa herum. Der Hof war heruntergekommen. Wir blieben draussen stehen. Vater plauderte, erzählte arglos, ja, ja, wir seien mit dem Mietwagen unterwegs und wohnten im Hotel "Anders", seine Kinder hätten ihn eingeladen… Mein Gott, ich hätte im Erdboden verschwinden mögen, noch selten habe ich mich so fett und verwöhnt gefühlt. Wo war die Gerechtigkeit? Welcher guter Schicksalsgott hatte meiner Grossmutter nach dem Krieg von hier fortgeleitet? Wie lebte ich, wer wäre ich, wäre Grossmutter damals hier in Hirschberg geblieben…? Ich schickte Oma ein Dankesgebet in den Himmel.

So gings weiter auf dem Gehöft, das einst den Bonins gehört hatte und einer der besten Höfe des Dorfes gewesen ist. Die Bauern, die nun darauf leben, luden uns ein zu Kaffee. Die Kekse dazu hatten sie rasch gekauft, als sie uns hatten kommen sehen. Dann sassen wir am Tisch. Wir sprechen kein polnisch, sie kein deutsch. Vater versuchte es dennoch mit einigen Brocken polnisch, und Mutter schenke der Bauersfrau eine warme Stola. Wir blickten in freundliche, aber matte Gesichter. Mutter musste plötzlich weinen. Armut ist demütigend, hatte sie uns immer erzählt. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Vater hier als Baby auf dem Stubenboden herumgekrabbelt war. Die Geschichten, die er uns immer wieder erzählt hatte, bekamen nun Bilder: Wir sahen die Scheune, wo mein Vater seinem kleinen Bruder einst zum Spass auf den Kopf gepisst hatte, oder das Plumpsklo, wo er sich vor den Russen versteckt hatten.

Ein Bild werde ich nie mehr vergessen: Es ist die Alleinsteiner Chaussée, eine Lindenallee, auf der mein Vater seinen eigenen Vater zum letzten mal gesehen hatte: Das war im Februar 45, Grossvater war von einem Dorfbewohner, einem Alt-Kommunisten, an die Russen verpfiffen worden und musste sich im Sammellager melden. Jedes seiner sechs Kinder und seine Frau hatte er umarmt und geküsst, "betet für mich" waren seine letzten Worten, dann zog er los. Er hatte aber seinen Schal vergessen und Grossmutter schickte Fritz, um ihm damit auf der verschneiten Chaussée nachzulaufen. Grossvater habe als er ihn erreicht hatte, eine Träne in den Augen gehabt, erzählte Vater – und dann habe sich der Mann einen Ruck gegeben und nicht noch einmal zurückgeblickt. Drei Monate später starb Grossvater in einem sibirischen Arbeitslager. Ich wünschte, ich hätte ihn kennenlernen dürfen.

All diese Geschichten, dieser Krieg, diese Beklommenheit – Michael und ich wollten bloss noch fort von diesem Hof. Rasch noch die obligaten Fotos vor dem Haus und dann nichts wie weg. Wie nur konnte das Volk hier so arm sein, wo doch die Erde so reichhaltig ist? Wieso war alles so heruntergekommen? Vater hob die Schultern und senkte den Blick. Wo war hier der Fortschritt, der uns doch bei unserer Ankunft in Warschau so voller Aufbruchstimmung und Lebenslust zugewinkt hatte? Wo war die Freiheit? Als wir beim Dorfausgang wieder auf unsere Fahrräder stiegen, rissen einige Jugendliche die Fenster auf, stellten Musikboxen raus, und plötzlich wummerte in die Stille ein Techno-Bass, der die Fenster erbeben liess. Vater runzelte die Stirn, Mutter schmunzelte, Michael und ich schauten uns an. Dann lachten wir uns zu, stiegen auf die Räder, rollten den Berg hinunter und liessen uns den Fahrtwind um die Ohren sausen.

PS Später, in einem Dankesbrief an Michael und mich schrieb Vater: "Mir kam die Reise manchmal wie ein Traum vor… Es hat mich tief berührt. Erinnerungen an eine glückliche Kindheit wurden wach, aber auch Erinnerungen an die schwerste Zeit in meinem Leben."

Buch

2009 haben wir das Buch "Zwei Wege aus Ostpreussen" veröffentlicht und 2019 neu verlegt. Es sind die Doppelmemoiren von Inge und Fritz Bonin, redigiert und herausgegeben von Gabriela Bonin und ihrer Cousine Sonja Bonin.

Das Buch hat auch eine Fanpage bei facebook.

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