Leseproben und Projektbeschriebe

Mit der Kuh per Du

Auf dem Rücken der Rindviecher die Landschaft erkunden, im Silo nächtigen: das Bio-Gut Bolderhof bringt Besuchern Tier und Natur ganz nah.

Wer hat schon je eine Nacht im Silo verbracht? Oder eine Kuh geritten? Solche Angebote klingen nach einem lustigen, kleinen Abenteuer. Tatenlustig fahren mein Mann und ich mit unseren drei Töchtern Richtung Biobauernhof Bolderhof in Hemishofen SH.  Noch wissen wir nicht, dass so ein Ausritt anspruchsvoller ist, als wir Rindvieh-Banausen uns das ausmalen. Nach einem heftigen Gewitter erreichen wir den Hof. Mensch und Tier haben sich ins Innere gerettet. Die verregnete Farm mit ihren Hallen und Eternit- und Lärchenholz-Fassaden wirkt wie ausgestorben.

Doch da öffnet sich eine Tür. Die Bäuerin kommt mit einem Lächeln auf uns zu:  «Willkommen! Doris Morgenegg, 50, führt uns in einen schlichten Raum mit langen Tischen und Sitzbänken. Eine Westschweizer Familie und drei italienische Motorradfahrer geniessen bereits ihr Abendessen: Verschiedene Salate, so frisch, dass es knackt beim Kauen, würzige Kalbssteaks mit Bratkartoffeln – alles bio, alles vom Bolderhof. «So cool, wenn ein ganzes Menü direkt vor der Haustür gewachsen ist», sagt eine unserer Töchter.

Später zeigt uns Landwirt Heinz Morgenegg, 49, die Ställe mit über 150 kleinen und grossen Wasserbüffeln und Milchkühen. Alle Tiere werden nach den Anforderungen des KAG-Freiland-Labels gehalten. Dieses stellt die strengsten Anforderungen an die Haltung von Nutztieren. «Unsere Tiere haben viel Auslauf, die Kälber der Milchkühe bleiben bei ihren Müttern, die Büffelkälber bei Ammen», erklärt Morgenegg. 

Der gelernte Agraringenieur führt uns zu Treibhäusern, Lagerhallen, Industrie-Kühlräumen, zur Käserei und zum Fleischerraum: «Wir zerlegen unser Fleisch hier auf dem Hof, verkaufen alles selbst». Schnell wird klar: Der Bolderhof ist kein schnuckeliger «Landliebe»-Hof mit Geranienschmuck und Patina – er ist ein effizient geführter Bio-Grossbetrieb auf dem alle Erzeugnisse nach Demeter-Richtlinien zertifiziert sind. Engagiert erzählt Morgenegg, wie er sich vom Diktat gewisser Grossabnehmer befreit habe, um unter faireren Arbeitsbedingungen mit seinem Team eine selbstbestimmte Landwirtschaft zu betreiben – so vielseitig und umweltschonend wie möglich. Laut eigenen Angaben erzeugt der Hof mit seiner Photovoltaikanlage drei Mal mehr Energie als er verbraucht, «alles inklusive, vom Samenkorn bis zur Haustüre der Kunden».

Morgenegg zeigt sich als Macher-Typus, der auf Eigenverantwortung und Unabhängigkeit setzt. Auf seiner Lohnliste stehen die Namen über 100 Angestellter. Auf dem Bolderhof wird nicht nur landwirtschaftlich produziert, die Morgeneggs und ihr Team verarbeiten auch Produkte und vertreiben sie via Online-Laden im grossen Stil in die ganze Schweiz. Zudem ziehen sie mit ihrem «Ausflugs- und Spassort» Feriengäste aus aller Welt an: Vom kanadischen Grossbauern über arabische Scheichs, die mal sehen wollen, wie Schweizer Käse gemacht wird, bis hin zu Schulkindern im Klassenlager. Wer über Nacht bleibt, schläft in Gästezimmern, in einer Ferienwohnung, im Stroh – oder wie wir: In umfunktionierten Silos. Morgenegg nennt sie «Sternguckernester».  

Tatsächlich fühlt man sich wie ein geborgenes Tierchen im Nest, wenn man im oberen Stock des Silos, eng von der Aussenwand umrundet, warm unter der Decke liegt. Eine grosse Luke gibt den Blick in den Nachthimmel frei. «Die Idee dazu kamen meiner Frau und unserem Sohn, als wir alte Silos entsorgen sollten», hatte uns Morgenegg zuvor erzählt, «plötzlich dachten wir, die könnte man doch recyclen!». So liess er die vermeintlichen Abfallelemente zu runden zweistöckigen Schlafhäuschen aufwerten. 

Nach unserer Sternguckernacht und einem reichhaltigen Bio-Bauern-Frühstück werden nun die Kühe gesattelt. Heinz Morgenegg gibt Instruktionen, denn Erfahrung mit Kühen haben wir keine, und geritten sind unsere Kinder bislang höchstens mal auf einem behäbigen Pony. Wichtig sei: «knuddeln, knuddeln, knuddeln!», sagt er. Noch lachen wir. Wie auf Befehl tätscheln, streicheln und umarmen nun alle Teilnehmer die wuchtigen Hälse der Kühe. «Baut einen guten Kontakt mit der Kuh auf! Und zeigt ihr, wer der Chef ist». Ok, verstanden. Also los geht’s! Das Kind wird in den Sattel gehievt. Ich begleite Kuh und Kind mit dem einen Halfter in der Hand.

Wir knuddeln, rufen Anweisungen, ziehen am Halfter. Die Kuh aber bockt. Mal will sie Gras fressen, mal umkehren, mal schüttelt sie so ihren Kopf so fest, als ob sie uns abschütteln wollte. Chefin ist hier leider die Kuh! Unsere Tochter sitzt angespannt im Sattel. Ich ringe mit Führungskonflikten.

Entspannung tritt erst ein, als sich die Tiere nach einer halben Stunde Ritt am Rheinufer ausruhen und Wasser trinken – was für ein idyllisches Bild! Nun wissen die Kühe: Es geht wieder auf den Heimweg. Zufrieden trotten sie nach Hause. Als wir anschliessend mit unserer Trekking-Gruppe hausgemachten Sirup trinken, herrscht aufgekratzte Stimmung. Man ist stolz, dass man es geschafft hat. Mehr als über die Idylle der Trekking-Route sprechen die Teilnehmer über den Ausflug in die eigene Psyche: Etwa über das Erkennen der eigenen Grenzen. Unsere Kinder knuddeln derweil zwei Katzenjunge im Stall. Ich höre «Jöh!»-Ausrufe von zwei verzückten Stadtkindern im Stroh.  

BOX: Der Biobauernhof Bolderhof liegt zwischen Schaffhausen und Frauenfeld in der romantischen Rheinlandschaft. Er versteht sich als «Ausflugs- und Spassort für Firmen, Gruppen, Vereine und Familien». Zum Hof gehört auch ein schweizweit tätiger Bio Frischlieferdienst mit einem umfassenden Angebot. Mehr Infos.

Anfahrt: Mit dem Auto ab Bern in ca. 2,5 Std. via Zürich und Schaffhausen. Ab Zürich oder St. Gallen in ca. 1 Std. Mit der SBB: Bis nach Stein am Rhein, weiter mit deutschem Bus Richtung Singen. Ab Bushaltestelle in wenigen Minuten bis «Hemishofen Dorf», ab dort in ca. 20 Minuten zu Fuss bis zum Hof.

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