Leseproben und Projektbeschriebe

Mein Bauch, der Sarg

Ein Baby stirbt noch in der Schwangerschaft, wird tot geboren: Bei Stillgeburten schreit kein Neugeborenes. Nur die Mutter. Gabriela Bonin über ein Leben, das vor dem Anfang ein Ende nahm.

Du siehst das Herzchen pochen und die Blutströme pulsieren. Du siehst die winzigen Nieren, die Lungenflügel und vielleicht wie das Kind am Daumen nuckelt. Etwas in dieser Art habe ich meiner Mutter angekündigt. Das müsse sie echt mal erleben! Ob sie mich daher zum Organ-Screening begleiten wolle, frage ich sie.

Als sie vor 37 Jahren selbst mit mir schwanger war, durchlebten werdende Mütter ihre Schwangerschaft noch „in guter Hoffnung“, ohne Ultraschall und viel Tamtam. Heutzutage schalten wir das Ultraschallgerät ein und schauen fern: In die Zukunft. Auf das werdende Kind.

Der Bildschirm flimmert, der Gynäkologe fährt konzentriert mit der Sonde über meinen Bauch. Ich bin im sechsten Monat schwanger, in der 24. Schwangerschaftswoche. Auf einem Gemälde hinter mir lächelt die Mutter Maria mit dem Jesuskind im Arm. Neben dem Fussende meiner Liege sitzt meine Mutter, blickt angestrengt auf den Bildschirm. Wo pocht denn hier ein Herzchen? Der Gynäkologe schweigt. Und schaut. Und schweigt. Oh Mann, der soll endlich mal was sagen…!

In den Tagen zuvor habe ich gegoogelt: Ist es normal, wenn man seit Tagen keine Kindsbewegungen mehr spürt? Ich habe meine Hebamme zögerlich gefragt, kann es sein, dass…?! Nein, rasch wegwischen solche Gedanken: Es kommt schon gut!

Der Gynäkologe blickt auf, sucht meine Augen: „Ihre Vorahnung war richtig“, sagt er: „Kein Blutstrom in der Nabelschnur, keine Kindsbewegung, keine Herztöne“, höre ich ihn sagen. Durch mein Herz jagt ein heisser Strom. Etwas in mir will nicht begreifen. Im Kopf ist’s leer. Ein Nichts überfällt mich, wie eine schützende Hülle.

Meine Mutter schluchzt auf. Hätte ich sie doch bloss nicht zu diesem Untersuch mitgebracht! Ich frage: „Es lebt nicht?“ „Nein“, sagt er, „der Befund ist eindeutig. Es tut mir leid“. Der Gynäkologe, ein anthroposophischer Arzt, hält meinem Blick stand, ruhig, als wollte er mir mit seinen Augen, die schon über viele existentielle Grenzen geschaut haben, Halt geben.

Es ist gestorben, wohl schon vor zwei Wochen, seiner Grösse entsprechend etwa in der 22. Schwangerschaftswoche. In meinem Bauch liegt eine Leiche.

Raus! Denke ich: Dieses Ding muss sofort raus! Und ich will raus aus dieser Praxis! Nur weg von hier! Das alles stimmt gar nicht. Ein grosses Nein zu allem. Dennoch drängt sich die Vernunft durch den Gedankensturm und fragt: Was nun? Der Gynäkologe erklärt mir alles in Ruhe. Und so werde ich in eine neue Lehrzeit geworfen, absolviere einen Crash-Kurs in gynäkologisch-medizinischen Belangen, in Geduld und Ertragen. Matt krame ich in meinem Fundus an Lebenskraft. Bin ich gerüstet? Zu spät, diese Frage. Im Sturm kann man nicht mehr die Segel flicken.

Wir besprechen, was es zu besprechen gibt: Dass ich den toten Fötus gebären soll (siehe Box), dass die künstlich eingeleiteten Wehen sehr heftig sein können, dass ich starke Schmerzmittel einnehmen dürfe, dass es Komplikationen geben könne: Etwa, dass sich die Plazenta nicht lösen würde und daher mittels Operation ausgeschabt werden müsste. Ok, sage ich, dann soll es morgen raus. Erst noch muss mein Mann Pete mit unserer vierjährigen Tochter Anaïs herbei reisen: Sie sind in Italien. Eine Stunde später steigen sie in den Zug nach Zürich.

Abends kuschle ich mich an den kleinen Körper von Anaïs. Ein Glück, sie lebendig zu fühlen! "Ihr müsst halt das tote Kind rausnehmen und wir wählen dann ein neues aus ", sagt sie und erklärt, dass sie ins Spital kommen und mir helfen wolle, falls ich Schmerzen haben sollte.

Die Nacht ist lang und wortlos. Mir gruselt vor dem toten Etwas in meinem Bauch. Hat seine Verwesung vielleicht schon eingesetzt? Pete hält meine Hand. Keiner mag mehr über den Babybauch streicheln. Seine Hand sagt: Wir schaffen das. Tränen rinnen mir heiss bis in die Ohrmuscheln. Warum ich? Warum es? Adieu, mein Kind! Ich habe deine Hiebe und Purzelbäume schon so oft gespürt. Dein Leben war schon mein. Warum verrätst Du mich?

Vielleicht, so erwäge ich, ist das Kind durch seinen vorzeitigen Tod vor Schlimmerem bewahrt worden. Dann müsste ich dankbar sein. Oder habe ich etwas falsch gemacht? Dann bin ich schuldig. Ich nicke ein, träume, dass mein Baby tot ist, erwache angespannt, denke „uff, das war nur ein Traum“, öffne erneut die Augen und merke: Der Albtraum ist echt.

Am Tag zuvor haben wir uns abgemeldet: Bei der Arbeit, bei Freunden und Familie. Einen Vertrauten habe ich angerufen und um Rat gebeten. Eigentlich habe ich um Mitleid heischen wollen. Er indes hat gesagt: Ertragen werden muss alles. Werde nicht sentimental ob deiner verlorenen Wünsche. Das sitzt. Beim Gedanken daran versiegen die Tränen.

Am nächsten Morgen liefern wir Anaïs bei den Grosseltern ab und fahren zur Klinik. Ob das Kind nach der Geburt gruselig aussehen würde, frage ich. Der Gynäkologe sagt: „Nicht der Tod ist hässlich, sondern unsere Vorstellung davon.“ Und nein: Es werde nicht schlimm aussehen. Meine Hebamme rät: „Nimm es an. Schau es nach der Geburt an. Es ist dein Kind, auch im Tod.“

Um acht in der früh schlucke ich schliesslich eine Tablette mit dem Wirkstoff Misoprostol: Das ist ein Prostaglandin, das äusserst kontraktionsfördernd wirkt. Bei rund achtzig Prozent der Frauen löst es innerhalb weniger Stunden Wehen aus. Dazu gehöre ich nicht: Pete und ich warten vergebens auf die Wehen, blättern in Zeitschriften, kämpfen gegen die Ungeduld.

Zufällig liegt mein Vater wegen eines Leistenbruchs in derselben Klinik. Ich besuche ihn im Patientenzimmer, fühle mich klein, ganz Kind. Papi, ich habe Angst vor der Geburt. Er tut, was er noch nie mit mir getan hat: Nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände, küsst mich aufs Haar und betet mit mir: „Gott, ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weisst den Weg für mich.“ Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hat dieses Gebet im Konzentrationslager geschrieben. Mein Leiden kommt mir plötzlich unbedeutend vor im Vergleich zum grossen Leid auf dieser Welt.

Um 12 Uhr nehme ich die nächste Misoprostol-Tablette, um 16 Uhr eine weitere. Die Dosen und Intervalle des Wehenmittels werden gesteigert. Der Gynäkologe redet uns immer wieder gut zu, die Geduld zu bewahren. Sitzt auch mal still neben uns und spendet Trost mit seinem Blick. Inzwischen haben wir gelernt, dass es bis zu fünf Tagen dauern kann, bis die Wehen einsetzen, dass man während des Wartens die Klinik möglichst nicht verlassen soll, weil die Wehen schlagartig hereinbrechen und starke Blutungen auslösen können.

Die Aussenwelt gibt es inzwischen nicht mehr. Es gibt nur noch die Klinik, meinen Mann und mich. Das fühlt sich seltsam frei an. Nichts von dem Theater da draussen spielt mehr eine Rolle. Wir sind zur Ruhe gezwungen. Seit der Geburt unseres ersten Kindes hatten wir nie mehr so viel gemeinsame Zeit als Paar. Je länger wir warten, reden, schweigen, trauern, auch lachen und erneut schweigen und trauern desto mehr spüre ich wieder, warum ich ihn eigentlich geheiratet habe: Er ist mein bester Freund. In guten und in schlechten Zeiten.

Drei Tage und Nächte soll das Warten dauern. Die Langezeit bringt uns auch dem Kind näher. Ich gewinne es wieder lieb, grusle mich nicht mehr vor ihm, söhne mich aus. Danke, dass ich dir wenigstens während einigen Monaten Geborgenheit sein durfte. Einen Namen wollen wir ihm nicht geben. Juristisch gesehen, hätte es ohnehin kein Anrecht darauf. Ich möchte es nicht mit einem Namen festhalten.

Die Gesetzeslage lässt uns unberührt. Wir nehmen sie einfach zur Kenntnis. Stirbt ein Fötus vor der 23. Schwangerschaftswoche gilt das als Abort. Stirbt es später und weist ein Gewicht von über 500 Gramm auf, gilt es als Totgeburt. Diese ist meldepflichtig und unterliegt der Bestattungspflicht. Betroffene Eltern erhalten eine Geburtsurkunde und einen Totenschein. Da unser Kind als Abort gilt, sind wir also frei von Pflichten. Wir beschliessen, dass wir es kremieren lassen und in einer Meeresbucht verstreuen werden.

Inzwischen haben wir sämtliche Schichtwechsel der angestellten Klinik-Hebammen mitbekommen. In den Nebenräumen wird fortlaufend geboren. Wir hören Neugeborene schreien, blicken auf Storchenbilder an der Wand, auf die Spital-Babybettchen, die frisch bezogen auf ihren Einsatz warten. Unsere „eigene“, frei schaffende Belegshebamme besucht uns täglich. Mit ihrer Hilfe habe ich bereits Anaïs geboren. Ich weiss: Wenn sie bei mir ist, dann bin ich stärker.

Am dritten Tag des Wartens – es ist Karfreitag – denke ich über die Passionsgeschichte nach. Auch überlege ich, wie Schwangere in einem Drittweltland eine Stillgeburt überstehen? Hier im Luxuskrankenhaus werde ich versorgt und verwöhnt. Sterben Frauen anderswo in so einer Situation? Wie unvorstellbar traurig muss es für andere Mütter sein, wenn ihr Baby kurz vor oder direkt nach einer regulären Geburt stirbt? Ich beschliesse, dankbar zu sein, versuche zu meditieren und die Wehen herbei zu befehlen.

Stunden später geht es plötzlich sehr schnell. Die Wehen brechen herein, die Hebamme eilt herbei, es tut höllisch weh, ich schreie – und draussen ist das Kind, gleich mitsamt der Plazenta. Geschafft! Ohne Schmerzmittel, ohne Operation. Ich bin stolz darauf und erleichtert, ganz wie nach einer normalen Geburt.

Nun wird es still. Da liegt es in meinen Armen: Ein Mädchen! Zart, mit durchsichtiger Haut, alles dran: Die kleinen Füsschen, die Fingernägel. Ein noch warmer 400-Gramm-Leib, 28 Zentimeter lang, wie eine Puppe. Es hat dunkle Haare. Ich hätte dich sehr geliebt. Uns fehlen die Worte. Mit wehem Lächeln nehme ich Abschied.

Für Totgeburten werden von Bestattungsunternehmen kleine Särge angeboten. Für Aborte sind indes keine Behältnisse vorgesehen. Wir betten es daher in eine Kartonschachtel. Wie ein abgelegtes Kleid, so hat auch dieses Körperchen seinen Dienst bereits erfüllt. Wohin wird seine Seele ziehen? Wird sie uns in anderer Gestalt wieder begegnen? Geht es ihr gut?

Diese Fragen werden mich in den künftigen Jahren ohne Antwort begleiten. Eine Frage – die grosse Schuldfrage – kann mir die Hebamme indes sofort beantworten: Nein, ich bin nicht schuld. Das Kleine hat sich selbst getötet. Zwei feste Knoten in der Nabelschnur, die ausserdem doppelt um den Hals geschlungen ist, zeigen, dass es sich verheddert und stranguliert hat. Ein Unfall. Einer der höchst selten vorkommt.

Wir kehren nach Hause zurück, wie nach einer grossen Reise. Müde, verändert, geläutert von bisherigen Lebensvorstellungen. Pete bringt die Schachtel mit dem Kind am nächsten Tag zum Krematorium. Meine Journalisten-Kollegen, darunter auch etliche Berufszyniker, schreiben uns warmherzige Mails. Geschwister, Eltern, Freunde, Nachbarn: Alle bieten Hilfe an und tragen mit. Man spürt: Auch in ihnen hat dieses kleine Wesen etwas bewegt.

Zehn Jahre später schreibe ich diesen Bericht. Inzwischen haben mir einige Frauen von Fehl- und Totgeburten erzählt. Das Thema ist tabu. Betroffene reden meist nur darüber, wenn sie auf andere Betroffene stossen. Der Lifestyle von heute verweigert sich der Majestät des Todes. So tun wir alle, als ob es ihn nicht gäbe. Dabei öffnet nichts zu sehr den Blick für die Möglichkeiten des Lebens, wie er. Nie und nimmer hätte ich eine Stillgeburt erleben wollen – inzwischen möchte ich sie als Erfahrung nicht missen.

Sie hält mich dazu an, als Mutter meine Ängste bewusster im Schach zu halten. Ich sage mir: Nirgends ist ein Kind geschützter als im Bauch der Mutter. Mir wurde es dort genommen – obschon ich nichts falsch gemacht habe. Hingegen überleben andere Kinder unter widrigsten, lebensfeindlichsten Umständen und werden bewahrt. Ich mag darin keinen Zufall sehen. Lieber gebe ich mich dem Vertrauen hin, dass alles Sein und Werden einer höheren Ordnung unterliegt.

Inzwischen haben wir drei Töchter. Sie rasen auf ihren Velos herum. Sie klettern auf Felsen. Sie gehen nachts allein durch dunkle Strassen. Manchmal sorge ich mich um ihr Leben. Dann denke ich an das vierte Schwesterchen und sage leise „Inschallah“*.

*Häufig benutzte Demutsbezeugung in der arabischen Sprache, übersetzbar als “So Gott will“

So finden Betroffene Hilfe

Jede Frau reagiert anders auf einen Abort oder eine Totgeburt. Wichtigster Rat an Betroffene: Lassen Sie sich Zeit nach dem Befund, fordern Sie die Zeit ein, die Sie benötigen, bevor sie weitere Schritte unternehmen. Es gibt in der Regel keinen Anlass zu Eile. Holen Sie sich Hilfe im privaten Umfeld, bei Psychologen oder Seelsorgern wenden Sie sich an Hebammen, Gynäkologinnen oder Ärzte, die Sie sensibel betreuen oder an entsprechende Fachstellen weiterleiten. Der Trauerprozess hängt massgeblich von der Betreuung vor, während und nach der Entbindung ab. Hilfe für Eltern, die Ihr Kind durch eine Fehl-, Tot- oder Frühgeburt verloren haben, gibt es hier: www.engelskinder.ch, www.verein-regenbogen.ch, www.elterntreffpunkt-girasol.ch, www.fpk.ch.

Spontangeburt versus Kaiserschnitt

Stirbt ein Fötus nach der 12. Schwangerschaftswoche, kann er in der Regel nicht abgetrieben werden, weil er schon zu gross ist und die Gebärmutter durch die Ausschabung Schaden nehmen könnte. Ein Kaiserschnitt empfiehlt sich auch nicht: Er würde die Frau körperlich unnötig belasten, weil sie nebst dem Kindstod noch eine Operation zu bewältigen hätte. Ausserdem erschwert oder verhindert der Kaiserschnitt spätere Spontangeburten. Normalerweise wird den betroffenen Frauen daher eine künstliche Geburtseileitung nahe gelegt. Der Geburtsprozess unterstützt sie darin, ihr Kind zu verabschieden und die Trauer zu verarbeiten. Studien zeigen, dass es vielen Eltern hilft, den Tod ihre Babies zu verkraften, wenn sie das tote Kind bewusst berühren, anschauen und verabschieden. In rund dreissig Prozent der Fälle kann – selbst nach einer Obduktion – nicht festgestellt werden, warum das Kind gestorben ist. Die Zahl der Totgeburten ist in den westlichen Ländern rückläufig und liegt unter einem Prozent. Der neusprachliche Ausdruck „Stillgeburt“ ist angelehnt an die englische Bezeichnung „stillbirth“. Er fasst Fehl- und Totgeburten zusammen.

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Tränen für das Engelskind

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