Leseproben und Projektbeschriebe

Neapel – SF – Einsiedler auf ewiger Wanderschaft

Essen mag er nicht, schwimmen auch nicht – Rainer will bloss eines: in Ruhe gelassen werden. Mit rot unterlaufenen Augen und ernster Richtermine grunzt er missmutig vor sich hin. Was aber machen all die Zweibeiner um ihn herum? Pferchen die unechte Kar …

Essen mag er nicht, schwimmen auch nicht – Rainer will bloss eines: in Ruhe gelassen werden. Mit rot unterlaufenen Augen und ernster Richtermine grunzt er missmutig vor sich hin. Was aber machen all die Zweibeiner um ihn herum? Pferchen die unechte Karettschildkröte (Caretta caretta) in eine enge Holzkiste, wedeln mit toten Fischen vor deren Nase umher und – fauch! – jagen ihr auch noch eine Markierung in die Flossen. Zehn Jahre hatte der etwa 26-jährige Rainer im Berliner Zoo-Aquarium dumpf seine Runden gedreht, und nun plötzlich sitzt er hier in Neapel, im Aquarium der "Stazione Zoologica" (siehe Box), und weiss nicht, was ihm geschieht.

Neben Rainers Kiste paddelt auch Miranda im Trockenen, schnaubt genauso unzufrieden und muss eine noch weit mühsamere Prozedur über sich ergehen lassen: Männer stecken sie in eine blaue Zwangsjacke, pappen ihr ein Kästchen auf den Rückenpanzer, einen Satellitenempfänger, dank dem Mirandas Krankenpflegerin, die Meeresbiologin Flegra Bentivegna, sie künftig auf all ihren Reisen beobachten will.

Denn morgen soll's in die Freiheit gehen, auf die Reise nach Griechenland, in die Türkei oder nach Ägypten – wo auch immer der genetisch verankerte Migrationsplan die gepanzerten Tiere hinführen wird. Doch davon ahnen Rainer und Miranda nichts, viel eher fürchten sie wohl, erneut verletzt zu werden. Rainer wurde einst als Jungtier von einer anderen Meeresschildkröte im Berliner Aquarium so schwer attackiert, dass er ein Bein verlor; und Miranda wurde diesen Frühling mit schweren Kopf- und Flossenverletzungen im neapolitanischen Meeresforschungsinstitut eingeliefert, so wie ihre elf anderen Leidensgenossen, die hier wieder aufgepäppelt wurden: Sie heissen Nerone, Duami, Luigi oder Azzurra, wurden von Motorbooten angefahren, von Fischernetzen verletzt oder von Ankern beinah erschlagen.

Mit gebrochenen Flossen oder Panzern, abgetrennten Beinen oder Ohren, vergifteten Mägen voller Plastik und Angelhaken wurden sie von Einheimischen aufgelesen und der Dottoressa Bentivegna anvertraut, damit sie diese heilt und auf ihre Auswilderung vorbereitet. "Wir haben bisher rund 300 Meeresschildkröten gesund gepflegt", sagt Flegra Bentivegna, die sich in der "Stazione zoologica" seit 1986 der Erforschung und dem Schutz der gefährdeten Reptilien widmet und mittlerweile zu einer international anerkannten Expertin für Meeresschildkröten avanciert ist. Denn sowohl in der Krankenpflege wie auch in der Erforschung der Meeresschildkröten ist Bentivegna innovativ vorgegangen: Unter ihrer Anleitung führten Veterinäre bei den Schildkröten erstmals Magenoperationen mittels Video-Endoskopie aus, da man ansonsten die herauszuoperierenden Gegenstände kaum findet; und 1996 setzte sie als erste Forscherin in Europa eine mit Satelliten versehene Schildkröte aus: "Gaete" schwamm von Stromboli durch den Golf von Sizilien, überquerte das Ionische Meer, folgte der griechischen Küste hinunter nach Kreta und landete schliesslich in Libyen. "Man weiss noch immer sehr wenig über die ausgiebigen Wanderwege der Schildkröten", bedauert Bentivegna, "aber wir konnten bisher sieben Tiere mit Satelliten losschicken und dadurch einiges lernen. Sie wählten alle ähnliche Routen ins östliche Mittelmeer." Miranda wird die achte Satelliten-Trägerin sein und neuerdings nebst ihrer Route und Schwimmgeschwindigkeit auch ihre Tauchtiefen verraten.

Eines der grössten Mysterien in der Erforschung von Meeresschildkröten ist ihr ausserordentlicher Orientierungssinn. Denn jedes Weibchen kehrt für die Eiablage genau an jenen Strand zurück, wo es einst selbst geschlüpft ist – selbst wenn es dafür tausende von Kilometern zurücklegen muss. Forscher vermuten, dass sich die Tiere bei ihren Wanderungen an erdmagnetischen Feldern orientieren. Meeresschildkröten unternehmen ausgedehnte Reisen, deren Routen von den Wassertemperaturen und vom Nahrungsvorkommen abhängen. Die Tiere, die allesamt ausgesprochene Einzelgänger sind, finden sich zur Paarungszeit in Küstennähe ein. Nachts kriechen die befruchteten Weibchen an den Strand, schaufeln mit den Hinterflossen ein Loch und legen rund hundert Eier ab. 60 Tage später schlüpfen die Jungtiere und eilen schnellmöglichst ins schützende Wasser. Doch schon auf ihrem ersten Marsch werden sie von Raubvögeln, Krebsen oder Raubtieren attackiert. Im Wasser laufen sie dann Gefahr, von grossen Fischen verspiesen zu werden.

Glücklich, wer von ihnen es schafft, aufs offene Meer zu paddeln und sich von der Strömung wegtreiben zu lassen. Man schätzt, dass von 1000 geschlüpften Jungtieren bloss eines das geschlechtsreife Alter von etwa 25 Jahren erreicht. Dennoch konnten die Meeresschildkröten über 110 Millionen Jahre überleben und gehören somit zu den ältesten Tieren der Erde.

Lebensgefährlich wurde es für ihre Gattung erst, als der Mensch begann, ihre nahrhaften Eier in Massen zu verspeisen, ihre Panzer als lukratives Schmuckmaterial international zu verhökern und die Schildkrötensuppe zur Delikatesse zu erheben: Seit Mitte letzten Jahrhunderts verminderten die Menschen die Zahl der Meeresschildkröten dramatisch. Ebenso tödlich wirkten der wachsende Schiffverkehr, der die Tiere verletzt; Schleppnetze, in denen die Schildkröten ertrinken; Umweltverschmutzung, die Vergiftungen und Krankheiten mit sich bringen und zunehmender Badetourismus, der die Nistplätze zerstört – all dies führte dazu, dass heute sämtliche sieben Meeresschildkrötenarten schwer vom Überleben bedroht sind. Seit 1981 sind sie international geschützt. Dennoch sinkt ihre Zahl stetig, da die Vorschriften immer wieder missachtet werden.

Grund genug für Flegra Bentivegna, alles zum Schutz der Meeresschildkröten zu tun, was in ihren Möglichkeiten steht. "Diese Arbeit gibt mir das Gefühl gibt, etwas zu tun, das Sinn macht". Die 50-jährige Forscherin hat Familie, zwei erwachsene Kinder, hier im Institut nennt man sie dennoch "mamma delle tartaruge" – Mutter der Schildkröten. Was sie leistet ist wahre Sisyphos-Arbeit, denn sind ihre ausgesetzten Tiere erst mal wieder im Meer, laufen sie erneut in Gefahr, verletzt zu werden. Oder sie wandern zu Nistplätzen, wo ihre Neste geplündert und sie selbst gejagt werden. "Unsere Arbeit ist anstrengend und nicht einfach", sagt Bentivegna. Jedes Mal, wenn sie "ihre" Tiere freilasse, sei sie sehr bewegt, "das ist immer schmerzhaft".

Kein Wunder sagt die Dottoressa am nächsten Morgen, sie habe sich die halbe Nacht Sorgen gemacht. Denn nun soll die Befreiung stattfinden, eine halbe Stunde von Neapel entfernt, am Strand von Vico Equense. Was für eine dramatische Stimmung! Als ob die Freiheit nur in aufwühlender Atmosphäre zu erlangen sei, türmen sich dunkle Regenwolken über dem Monte Faito, Wind peitscht übers Wasser, am Strand schlottert ein Heer zusammengefalteter Sonnenschirme. Vor wenigen Tagen haben sich hier noch Badegäste aus aller Welt getummelt, nun Anfang Herbst, ist der Strand leer und die Bucht von Booten befreit – ideale Bedingungen für die Auswilderung und die richtige Jahreszeit, damit die Schildkröten noch vor Winterbeginn in wärmere Gefilde schwimmen können.

Eine Schulklasse nach der anderen trudelt ein, so dass schliesslich rund 500 bis 600 Kinder aus der Umgebung schnatternd und lachend auf das bevorstehende Spektakel warten. Die "Lega navale", eine dem Meeresschutz verpflichtete Organisation, hat die Schüler über die Bedrohung der Meeresschildkröten informiert und sie zur Befreiungsaktion eingeladen – Basisarbeit im Tierschutz. Helfer tragen eine Schildkrötenkiste nach der anderen zum Strand.

"Azzura", über einen halben Meter lang und über 50 Kilo schwer, wird als erste aus ihrer Kiste gehievt, rudert hilflos mit ihren Flossen durch die Luft, findet dann plötzlich Boden unter den Füssen und weiss nicht, was sie soll. Wo bitte, geht's denn hier zur Freiheit? Vor ihr sieben Fotografen, neben ihr die Helfer, rundherum hunderte von erwartungsvollen Gesichtern. "Avanti, avanti!", feuern sie die Kinder an. Ratlos blickt sie zurück. Dann umspült eine erste Welle Azzurras Flossen und weist ihr den Weg. Nichts wie los! Azzurra kriecht vorwärts, taucht alsbald in die Tiefe, rasend schnell vorbei an den Tauchern mit ihren Unterwasserkameras, weiter und weiter – einfach fort von hier. Die Menge jubelt.

Als die kleine "Esperanza" an der Reihe ist, kann sich Flegra Bentivegna nicht mehr zurückhalten, will sie nochmals in ihren Armen halten, wie ein Baby wiegen, am Hals kraulen. "Wir tauften sie Esperenza, das heisst Hoffnung, und ist stellvertretend für alle Tiere, die wir freilassen", erklärt die Forscherin. Schliesslich ist Rainer an die Reihe – ob er sich wohl noch an das Leben im Meer erinnern kann? Er werde sich zurechtfinden, glaubt Bentivegna, man habe ihn hier in Neapel nach all den Jahren im Berliner Zoo wieder auf mediterrane Meeresbedingungen vorbereitet. "Schau nur, wie eine Rakete ist er davongezischt!", ruft die Forscherin, "mamma mia, wie schön!".

Und nun kommt Mirandas Befreiungsakt. Ziemlich wichtig sieht sie aus, die High-Tech-Schildkröte. Rund 180'000 Franken hat ihre technische Aufrüstung gekostet – plus unzählige Stunden intensiver Krankenpflege. Nun sind alle Narben verheilt und Miranda soll auf Mission gehen, da sie die aktivste unter den derzeit beherbergten Tiere gewesen sei, und auch Bentivegnas bevorzugter Liebling. Jetzt taucht sie ab, die Taucher eilen hinter ihr her, verlieren sie aber rasch. Lange schaut ihr die "mamma delle tartaruge" nach, seufzt dann und hofft, dass sie Miranda und den anderen Freigelassenen hier in Neapel nie wieder begegnen möge.


Box über die stazione zoologica

Die "Stazione Zoologica" in Neapel wurde Ende des 19. Jahrhunderts vom deutschen Naturfoscher Anton Dohrn gegründet und ist heute Europas ältestes Meeresforschungsinstitut. In den dreissig Wassertanks leben rund 200 Tier- und Pflanzensorten, die alle aus dem Golf von Neapel stammen. Seit 1986 ist die Station die offizielle Sammelstelle für verletzte Meereschildkröten aus der Region. Unter der Leitung der Meeresbiologin und Kuratorin Flegra Bentivegna werden die Tiere seither im Institut gesund gepflegt, erforscht und wieder ausgesetzt. Meistens sind es unechte Karettschildkröten (Caretta caretta), da diese am ehesten im Mittelmeer anzutreffen sind. Derzeit sind aber auch zwei griechische Suppenschildkröten (Chelonia mydas) beherbergt, die dereinst in Griechenland freigelassen werden sollen, dafür aber noch auf einen Sponsor warten.
Stazione zoologica, Villa Comunale 1, 80121 Napoli, Tel. 0039 81 58 33 111, Fax 0039 081 58 33 294, www.szn.it


Box über Meereschildkröten

Alle sieben Meeresschildkrötenarten sind vom Aussterben bedroht und stehen unter internationalem Schutz. Sie dürfen nicht transportiert, gehandelt oder getötet werden. Am schwersten gefährdet sind die Echte Karettschildröte (Eretmochelys imbricata), die seit Jahrhunderten wegen ihres schönen Panzerns gejagt wird und die Karibische Bastardschildkröte (Lepidochelys kempii), die kleinste der Meeresschildkröten, die nur im Golf von Mexiko nistet. Dort fiel die Zahl der nestenden Weibchen von jährlich 40'000 in den Vierzigerjahren auf wenige hundert in den Achtzigerjahren. Im Mittelmeer trifft man am ehestens die Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta), in tropischen Gewässern tummelt sich vorwiegend die Suppenschildkröte (Chelonia mydas), von der allein im Indo-Australischen Archipel jährlich rund 100'000 Exemplare getötet werden. Die Wallriffschildkröte (Natador depressa) lebt ausschliesslich um die nördliche Hälfte Australiens, und die Gewöhnliche Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea) ist weit verbreitet am Golf von Mexiko, in Südamerika und Südostasien. Als Königin der Meeresschildkröten gilt die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea), die bis zu 180 Zentimeter lang und 500 Kilo schwer werden kann, selbst das kalte Wasser Alaskas erträgt unnd viele hundet Meter tief tauchen kann.
Hervorragende Website über Meeresschildkröten: www.cccturtle.org

Gabriela Bonin | Copyright 2018 | Impressum | DatenschutzAGB | Sitemap