Leseproben und Projektbeschriebe

Einsamkeit in der Natur: Sennerin auf einer Alp

Fotos: Marc Wetli "Schau nur, das Schloss brennt wieder – Alpenglühen!" Andrea Pfenninger lehnt sich an die Wand ihrer Steinhütte, lässt den Blick über den gezackten Horizont schweifen, hört lächelnd in die Stille. Sie deutet auf ein bizarres Felsgebil …

Fotos: Marc Wetli

"Schau nur, das Schloss brennt wieder – Alpenglühen!" Andrea Pfenninger lehnt sich an die Wand ihrer Steinhütte, lässt den Blick über den gezackten Horizont schweifen, hört lächelnd in die Stille. Sie deutet auf ein bizarres Felsgebilde in der Höhe, das sich jeden Abend zu einem glühenden Palast zu wandeln scheint und vor Kraft strotzend das Purpurlicht des Feierabends ins Safiental sendet, in eines der entlegensten Täler im schweizerischen Graubünden.
Die Hühner schlafen bereits, in Andreas Alphütte heizt ein Holzofen gemütlich ein, die 33-jährige Baslerin hat soeben zu Abend gegessen – wie verlockend wäre es nun, sich zurückzulehnen und den Tag ausklingen zu lassen.
Aber was tun denn die Kühe da oben? Andrea kneift die Augen zusammen, schüttelt den Kopf: "Die finden den Übergang zur anderen Alpseite nicht". Nicht etwa, dass Kühe blöd wären, nein, es sind die Kälber, die noch zu jung und unerfahren sind, um selbständig ein kleines Tobel zu durchqueren. Nun stehen sie da, glotzen zu ihrer Chefin. Muss ich wirklich…? Ein Seufzen, ja ich muss, sagt Andrea zu sich selbst, drückt ihre Zigarette aus, schnappt einen Holzstecken und stapft durch die fette Alpwiese zu ihren Schutzbefohlenen, weist ihnen den richtigen Weg, damit sie nachts nicht ins Tobel stürzen.
Für 40 Kälber ist sie auf der "Biggenmad"-Alp verantwortlich, zudem für 24 trächtige "Galt"-Kühe, so nennt man hier die Tiere, die vorübergehend keine Milch produzieren. Dazu noch fünf Ziegen, drei Hühner, drei Hunde, eine Katze, ein Schwein. Als Alphirtin steht sie seit acht Jahren im Dienst von zehn Bauern, die ihr ihre Kühe jeden Sommer anvertrauen.
Und dies heisst nicht bloss, das Vieh zu hüten und füttern. Die gelernte Landwirtin wandelt sich auf dieser Alp auch zur Krankenpflegerin, Geburtshelferin, Wetterexpertin, Handwerkerin und Käserin. Denn die Tiere leiden immer wieder an einem Gebrechen, mal ist ein Euter entzündet, mal eine Klaue zerbrochen, mal wird ein Kalb zu früh geboren. Andrea desinfiziert die Wunden, salbt, gibt Spritzen, hält mit dem Besitzer des Tieres Rücksprache oder alarmiert die Rettungsflugwacht, dann etwa, wenn eine Kuh einen Steilhang hinuntergestürzt ist. Täglich, ja stündlich, kann das Wetter ändern, mitten im Sommer mag es jäh schneien, den Boden vereisen, oder plötzliche Nebelschwaden lassen alles und jedes erblinden. So muss Andrea auf ihrer Alp ohne Radioempfang die Wettervorhersage selbst bestimmen können. "Hier ist die Natur der Boss, sie ist unberechenbar und spannend. Es ist diese Beweglichkeit der Berge, der ständige Wechsel der Natur, diese schier unaufhörliche Weite, die mich immer wieder faszinieren".
Ebenso freut sich die ehemalige Sprach- und Geschichtsstudentin an den Bauarbeiten, die sie zu erledigen hat: Letzten Sommer betonierte sie mit Hilfe von Freundinnen den Boden des Schweinestalls, mauerte im Freien einen Backofen, zimmerte einen Holzschrank; dieses Jahr will sie die Käserei fliesen, einige Zäune flicken, den Pfad durch das Tobel ausbessern. "Mein Studium fand ich öde, die Aussicht dereinst Sprachlehrerin zu werden, ebenso langweilig. Auf der Alp hingegen gefällt mir die Vielseitigkeit meiner Arbeit. Denn hier bin ich weitgehend auf mich selbst angewiesen, muss viele der anfallenden Arbeiten und Probleme alleine bewältigen. Ich geniesse diese Selbständigkeit und die Freiheit, zu basteln und bauen, was ich will. Die Bauern lassen mir weitgehend freie Hand". Auch das Käsen aus der Ziegenmilch und der Milch einer Nachbarskuh ist ein Unternehmen, in das Andrea ihre Experimentierlust steckt, das sie allerdings nur als Hobby betreibt. Eine richtige Käseproduktion wie auf einer Milchkuh-Alp, will sie nicht. Denn dies würde ihr so viel Einsatz abverlangen, dass sie die Alp nicht mehr alleine bewirtschaften könnte. Und es ist ja gerade diese Eigenständigkeit, die sie jeden Frühling aus ihrer Basler Wohngemeinschaft und ihrem Winterjob auf einem Bauernhof in die alpine Einsamkeit treibt.
So einsam wie man sich den Alpöhi aus Heidis Geschichte vorstellt, lebt Andrea indes nicht. Immer wieder kommen Freundinnen aus Basel zu Besuch, verbringen einige Wochen Ferien bei ihr, "arbeiten müssen sie dann aber trotzdem", sagt Andrea und lacht. Es sei ja nicht so, dass sie eine Heldin des Alltags sei, nein, manche Aufgaben könne sie schlicht nicht alleine bewältigen und da sei sie um die Unterstützung ihres Besuchs dankbar. Bei Bedarf kommen auch die einheimischen Männer, helfen einen Tag Holz zu sägen oder Wege reparieren. Da die Alp direkt an einem Wanderweg liegt, schauen gelegentlich auch Touristen vorbei. Mehr als es Andrea lieb ist, denn einige der fremden Gäste trampelten durch die Berge als ob diese ihr Eigentum wären. "Manchmal picknicken sie in aller Selbstverständlichkeit an meinen Gartentisch oder sie verlangen ein Glas Milch, wenn ich am melken bin und werfen einfach ihren Abfall auf die Almen. Einmal wollte einer mein Auto nehmen, weil er keine Lust mehr hatte, weiterzuwandern…" Andreas Augen blitzen, man spürt ihre Wut auf alles, das ihre Integrität verletzten könnte. So nerven sie auch einige Einheimische, die nichts lieber tun, als jede Bewegung im Tal mit dem Fernrohr zu beobachten, "zu spiegeln", wie man diese in den Alpen verbreitete Beschäftigung nennt, "die sehen alles, kommentieren alles und dann macht es im Dorf die Runde."
Aber die dörfliche Gemeinschaft im Tal hat auch ihre schönen Seiten: "Wenn ein Tier verunfallt, wenn ich krank bin oder einfach bloss ein Werkzeug ausleihen will – die Leute sind zur Stelle und helfen". Ebenso hat Andrea langjährige Beziehungen aufgebaut, die ihr hier über manche Krise der Abgeschiedenheit und des Fremdseins als Städterin hinweggeholfen haben. Wie etwa mit der Frau des Alpchefs oder der Fremdenverkehrsbeauftragten des Tals: "Das sind wunderbare Gesprächspartnerinnen, sind wie ich als Auswärtige ins Tal zugezogen. Mit ihnen kann ich über alles reden, die verstehen auch meine Mentalität als Unterländerin." Ebenso sitzt sie mit den Sennerinnen oder Senner der Nachbaralpen gerne mal gemütlich zusammenstammen. Andrea kann sich aber auch gut mit sich selbst beschäftigen. Abends löst sie Kreuzworträtsel, liest Bücher, telefoniert oder kümmert sich um ihre Käserezepte, macht Quark und Formaggini, wendet und schmiert regelmässig die Ziegenkäse. Meist geht sie früh schlafen, denn morgens um sechs, noch vor dem Frühstück, müssen die Ziegen gemolken werden – selbst wenn es noch so kalt ist und der Stall vor dem Ausmisten atemberaubend stinkt.
So sind Andreas Hände rau, man sieht, dass sie viel anpacken. Meist steckt sie in groben Arbeitskleidern und schweren Stiefeln, zuweilen brüllt sie wie ein währschafter Bauersmann ins Tal, gängelt die Kühe, ruft nach ihren Hunden. Andrea kann herbe wirken, wie ein alpines Gewittergrollen, und man ahnt in ihr eine Kraft, die Stein und Fels als Herausforderung betrachten. Doch sobald sie von Tieren spricht, erwärmen sich Augen und Tonfall, und wenn sie von ihrer verstorbenen Lieblingskuh, der "Bernina" erzählt, muss sie kurz den Blick senken: "Bernina war die Schönste und Beste, das wusste sie auch. Beim Wiederkäuen legte sie sich immer oberhalb der anderen Kühe an den Hang, bimmelte dabei mit ihrer Glocke damit man sie auch sicher bemerkte." Bernina habe gerne ihren Kopf an Andreas Schulter gekuschelt, sei auf Befehl selbständig nach Hause zum Stall getrottet und habe so auch die Herde geführt.
Aber dann hatte Bernina "ausgedient", wurde zu alt und musste geschlachtet werden. So ist das halt mit den Tieren, Gehätschel und Sentimentalität sind den meisten Bauern fremd. Das sei auch in Ordnung, bloss manche, so findet Andrea, würden ihre Tieren wie Ware ohne Seele behandeln. Das ist ihr unverständlich. Pragmatisch müsse man allerdings schon sein. Deshalb hält sie innerlich auch bewusst Abstand zu ihren zwei Zicklein und dem Schwein, denn demnächst werden auch diese geschlachtet. "Der Tod ist hier in den Bergen gegenwärtiger als in der Stadt er gehört hier noch zum Leben.", sagt sie, "Tiere verletzen sich und sterben, im Herbst wird Wild gejagt. Und auch die Menschen sind direkter betroffen. Denn ihre Angehörigen versterben meist noch zu Hause, nicht in den Krankenhäusern". Deshalb sei ihr auf der Alp die Schönheit des Lebens jeweils bewusster, sie freue sich an jedem Tag, "ich will das Leben geniessen".
Dazu benötigt Andrea wenig Komfort. Neuerdings hat sie zwar Telefon, Einbauküche, Dusche und Toilette im Haus – aber früher ging es auch ohne dies: "Die Hütte war feucht und dunkel. Der Regen drang durch die Fensterritzen hinein, und abends benutzte ich Kerzen oder Benzinlampen. Das Klo war draussen, gewaschen habe ich mich vor der Hütte in einem Holzbottich – aber ich war glücklich." Was sie hingegen vermisst, ist frisches Gemüse und Obst. Einmal wöchentlich lässt sie sich ein Bio-Packet mit der Post zustellen, in ihrem Garten zieht sie Kräuter und Salate.
So gibt es durchaus Dinge, die sie jeweils nach einem Alpsommer bei ihrer Rückkehr in die Stadt wieder zu schätzen weiss: Die vielseitigen Einkaufsmöglichkeiten, eine Zentralheizung, die Freiheit, an den Wochenenden Ausschlafen zu dürfen und keine Verantwortung für siebzig Tiere zu tragen. Doch weder wollte sie ständig in den Alpen leben, noch hielte sie es immer in der Stadt aus. "Jeden Frühling zieht es mich wie eine Sucht in die Berge. Das ist totale Leidenschaft". Es rufen die Kühe und Ziegen – und auch die wilden Steinböcke, Gämsen, Murmeltiere und Rehe. Und es sind Ende Saison die Annehmlichkeiten des Stadtlebens, die Andrea jeden Herbst müde, zufrieden und voller neuer Eindrücke wieder nach Basel ziehen lassen.
Wanderungen und Skitouren im Safiental
Das Safiental im schweizerischen Graubünden ist ein Hochtal ohne Bergbahnen und Skilifte, eine Region, die noch von ihrer Ursprünglichkeit lebt und einen sanften Tourismus pflegt. Gäste schätzen das Safiental wegen seiner Unberührtheit und Ruhe. Pro Jahr zählt der Verkehrsverein bloss 5000 Übernachtungen. Im Sommer findet man ideale Wanderverhältnisse vor: Möglich sind flache, einfache Spaziergänge bis hin zu anspruchsvollen, hochalpinen Bergtouren mit Führern. Viele deutsche Gäste schätzen die Skitouren, die der Winter bietet: 15 verschiedene Touren sind möglich, darunter auch solche für Anfänger. Ebenso besteht die Möglichkeit zum Langlaufen, Eisklettern, Schneeschuh- und Schlittschuhlaufen.
Das Safiental erreicht man über Chur-Bonaduz-Versam per Auto, Bahn oder Postauto. Der Verkehrsverein Safien informiert über Sportmöglichkeiten, Gasthäuser, Ferienwohnungen, Alpbesichtigungen und Ferien auf dem Bauernhof: 7107 Safien Platz, Tel. 081 647 12 09, Fax 081 647 13 22, www.safien.ch.

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