Leseproben und Projektbeschriebe

Adjektive sind eine Bevormundung

Setze Adjektive nur gezielt ein. Kleine Gebrauchsanweisung.

9. April 2019   |   2 Minuten

Wir unterstützen die Freiheit im Kopf der Lesenden, wenn wir möglichst alle Adjektive streichen. In meiner Kindheit nannten wir sie noch die "Wie-Wörter". Das Schulbuch lehrte uns: "Adjektive charakterisieren Personen, Lebewesen, Begriffe, Dinge, Vorgänge oder Tätigkeiten. Adjektive geben eine Antwort auf die Frage: Wie ist eine Person oder Sache."

Das ist richtig und falsch zugleich. Denn im Alltag kann man durchaus jemandem einen "schönen" Tag wünschen oder "feine" Gipfeli anpreisen und man weiss, was gemeint ist. Dennoch hat jeder eine andere Vorstellung davon, was er gerade schön und fein findet. Die Adjektive vernebeln also die ganze Sache.

Wenn wir so kommunizieren wollen, dass authentische Bilder in den Lesenden entstehen, dass Sinne stimuliert werden und sich Geschichten aufdrängen – wenn Storytelling in jedem Satz seine Wirkung zeigen soll – dann empfehle ich diese 7 Arbeitsschritte

  1. Schreib zunächst munter draus los.
  2. Hapert es? Dann lies meine Tipps gegen Schreibblockaden!
  3. Nun suchst du in deinem Rohtext nach Adjektiven. Streiche sie. Auch wenn es weh tut oder mühsam ist. Behalte nur diejenige, die zur Unterscheidung nötig sind (Beispiel: "Bitte nimm das grüne Hemd, nicht das weisse) oder bei bewussten Wertungen.
  4. Ersetze sie! Suche stattdessen nach Bildern, nach sinnlichen Eindrücken. Ja, das macht Arbeit! Aber es lohnt sich. Das Gipfeli wird dann vielleicht zu einem Gebäck "das nach Butter und Entspannung duftet" und deine Dienstleistung "schafft mehr Raum" oder "geschenkte Extra-Zeit" oder fühlt sich so an, wie einst eine "6 in Mathe".
  5. Denk dabei immer an dein Gegenüber: Welche Bilder, Gerüche, Klänge, Geräusche, Gefühle sucht dein Leser, deine Leserin? Überlege, was man empfinden mag, wenn man in ein Gipfeli beisst oder wenn dein*e Kund*in erstmals dein Produkt einsetzt. Knistert es? Wärmt es? Oder fühlt es sich an, wie das Eiswasser eines Bergsees an, in das man wundgelaufene Füsse taucht? Kein Wunder gibt es eine wachsende ASMR-Community auf Youtube. Grosskonzerne wie IKEA spielen bereits mit dieser neue Kommunikationsform herum – denn das Publikum giert nur so nach sinnlichen Eindrücken. Suche danach und bringe sie zu Wort.
  6. Indem du jedes Adjektiv in Frage stellst und wirklich nur die besten, nötigsten Wie-Wörter im Text stehen lässt, schenkst du deinen Leser*innen mehr Freiheit für eigene Bilder, eigene Urteile – Meinungsfreiheit eben. Wer Adjektive unachtsam einsetzt, will mir befehlen, wie eine "schöne" Frau auszusehen hat, was "grün" für uns zu bedeuten hat. Oft enthalten Adjektive auch keine echte Aussage: Oder kann mir bitte jemand sagen, was "brutal" oder "mega" eigentlich bedeuten? Oder "gescheit"?
  7. Trau deinen Leser*innen also ihre eigene Meinung zu. Sie wollen zwar Fakten, mögen Sinneseindrücke, aber auf die meisten Adjektiven können sie verzichten – auf ungebetene Kommentare übrigens auch.

Die ganze Übung mit den Adjektiven ist erst ein Anfang. Ein wichtiger Schritt zu einem anderen Bewusstsein, zu einer dienenden Haltung. Meine lautet: "Ich verschaffe dir Informationen und Stimulation, aber ich lasse dir deine Meinung. Zieh deine eigenen Schlüsse." 

PS Kleine Übung: Wie wirkt dein Arbeitstisch? Ist er "ordentlich", "steril", "businesslike"? Und was denkst du, wenn du folgendes liest: "… auf ihrem Schreibtisch, zwischen Aschenbecher und Weinglas stapeln sich Bücher, Notenhefte, Papierknäuel. Irgendwoher schleichen sich die Klänge von Boléro an. Ein Cocker Spaniel leckt von einem Perserteppich Kuchenbrösel auf, tänzelt über die Blütenblätter einer Lilie…": So kann ein Raum auch aussehen. Ist er "unordentlich"? Oder wirkt er vielleicht "künstlerisch"? Wie liest eine Hundeliebhaberin diese Zeilen? Was denkt ein Antiraucher, eine Orientalin? Mit diesen Zeilen lassen wir den Leser*innen die Freiheit, sich ihre eigene Meinung zu bilden (Mein-ung, das sagt ja schon das Wort, ist meine Sicht der Dingen). Das gelingt dank bildlicher Sprache. Schreiben wir also nicht, der Raum sei "schön" oder "shaby".

Schöne Grüsse, Gabriela Bonin

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