Masterfoods – Wirz Corporate – Eichhörnchen
Wird sie es angreifen oder annehmen? Eine wahre Geschichte um Leben und Tod. Um Mutterliebe und ein Findelkind.
Es ist nackt und blind. Es zittert vor Kälte. Bald wird es erfrieren, verhungern oder an Durst zu Grunde gehen. Doch dann: sanfte Hände, zärtliche Stimmen, Wärme. Menschen nehmen es auf, telefonieren, beschliessen, man müsse es wieder aussetzen, vielleicht bestehe noch eine Chance und die Eichhörnchenmutter hole sich ihr Junges zurück. Da sitzt es wieder allein am Boden, irgendwo am Zürcher Üetliberg. Zittert. Wartet. Zwei, drei Stunden lang – aber es lässt sich keine Mutter blicken.
Die Menschen kehren schliesslich zu ihm zurück, nehmen sich seiner an, geben ihm einen Namen: «Bruce Lee» heisst es nun. Es kriecht der Menschenmutter tief unter den Pullover. Liv, das 8-jährige Mädchen der Familie, nennt es fortan «Bruusli». Andi, der Vater und Saskja, die Mutter besorgen in der Apotheke Elektrolyt-Lösung, und träufeln Bruusli mit einer Pipette die lebensnotwendige Flüssigkeit ein. Dann wird er in einer Kartonschachtel mit Tüchern bedeckt und auf die warme Heizung gestellt. Später füttert es Saskja mit Katzenpulvermilch. Bruusli lernt rasch, wie er die Pipette mit beiden Pfötchen festhalten kann. Gierig saugt er sich in seinem neuen Heim mit Nahrung und Zuneigung voll.
Eine Mitbewohnerin des Haushalts hat allerdings gar keine Freude an Bruusli: Die zwei Jahre alte Katze Minusch reagiert gereizt auf den Eindringling, macht grosse Augen, beginnt, hastig zu atmen, beobachtet ihn in ständiger, latenter Aggression. Minusch hat vor wenigen Tagen vier Junge geworfen. All ihr Handeln ist darauf ausgerichtet, ihre Kätzchen zu nähren und zu beschützen. Da kann so ein schwarzer Wicht eigentlich nur Gefahr bedeuten oder zumindest Störung. Saskja hält die beiden Tiere künftig in zwei getrennten Zimmern. Dennoch nimmt sie Bruusli regelmässig auf die Hand, setzt sich jeweils zu Minusch hin, zeigt ihr das Findelkind und erklärt in freundlichem Ton, dass Bruusli nun auch zur Familie gehöre. Minusch stehen die Haare im Nacken hoch.
Bruusli muss alle zwei bis drei Stunden gefüttert werden, auch nachts. Das bringt den Familienrhythmus durcheinander, macht dafür aber Freude. Er wird immer munterer, seine Augen öffnen sich – wache, lustige Äuglein hat er. Nach dem Füttern turnt er behände an den Armen seiner Betreuer herum. Bereits stossen seine unteren Zähne durch, er muss demnach etwa drei Wochen alt sein.
Als Saskja den Kleinen wieder mal der Katze vorführt, setzt Minusch erneut ihren kritischen Blick auf, atmet erregt. Dann vollzieht sie innerhalb von Sekunden einen Sinneswandel, schupst Bruusli mit einer Pfote plötzlich zu sich heran und leckt ihn ab. Er findet sofort eine freie Zitze, beginn zu saugen. Geschafft! Das kleine Eichhörnchen hat eine Adoptivmutter gefunden. Minusch lässt Bruusli fortan nicht mehr aus den Augen, sie umsorgt und versäubert ihn genauso wie ihre vier anderen Jungen. Saskja und Liv füttern ihn zusätzlich mit der Pulvermilch, bald schon beginnt er, an Zwiebackstücken zu knabbern. Bruusli liebt nichts mehr, als sich bei seiner Adoptivmutter einzukuscheln. Er nimmt zu, gedeiht, wird immer munterer und tanzt seinen vier «Geschwistern» gelegentlich auf der Nase herum. Viele Freunde und Bekannte der Familie kommen zu Besuch – alle sind sie berührt von dem kleinen «Wunder» der Adoption.
Eine Woche lang geht alles gut, doch dann eines Morgens wirkt er schlapp und trinkt schlecht. Saskja bringt ihn sofort in die nahe gelegene Kleintierklinik. Dort stellt man starke Blähungen fest, hängt ihn für einige Stunden an eine Mini-Infusion. Der Tod hat viele Gesichter – aus welchem Grund er an diesem Tag bei Bruusli eintritt, kann nicht einmal der Chefarzt sagen. Minusch ist ausser sich, sucht aufgeregt ihr verlorenes Kind. Liv schreit ihren Schmerz in die Welt hinaus. Warum, Mami, warum nur…? Die Eltern wissen nicht, was sie mehr schmerzt: Der Anblick des verstorbenen Eichhörnchens oder das Mitgefühl für ihre Tochter, die nun zum ersten Mal in ihrem Leben mit den grossen Fragen nach Leben und Tod zu ringen hat. Mami, wohin geht nun der Bruusli…? Die Familie bettet das Eichhörnchen erneut in seine Kartonschachtel, behält es noch einen Tag bei sich in der Wohnung. Dann schaufeln sie ihm im Garten ein kleines Grab aus, legen es in die Mulde, streuen Blumen darüber, bedecken seine Ruhestätte mit Erde.
Als wir die Familie einige Tage später besuchen, räkelt sich die Katzenmutter auf Saskjas Bett. Ihre Jungen tapsen neugierig umher. Liv erzählt der Journalistin voller Stolz, dass sie Bruusli jeweils selbst habe füttern dürfen, dass ihre Freundinnen gerne auf Besuch gekommen seinen, um den kleinen Zwirbel auch kennen zu lernen, dass sie schliesslich auf sein Grab weisse Stiefmütterchen gepflanzt habe und es dann mit Steinen umrandet habe – damit Brussli «geschützt» sei. Die Eichhörnli-Geschichten sprudeln nur so aus ihr heraus. Dann fragt sie ihre Mutter, ob sie noch ein wenig nach draussen zum spielen dürfe und verschwindet vergnügt.
Eine halbe Stunde später verabschieden wir uns und verlassen das Haus. Da sehen wir Liv, wie sie vor Bruuslis Grab kniet. Sie hat bunte Papierschiffchen gefaltet und diese auf seine Ruhestatt gesetzt. Das Kind schüttelt sich und schluchzt. Alle Erinnerungen sind wieder lebendig geworden. Wir erzählen dem Mädchen, die Seelen der Verstorbenen würden in einem kleinen Schiffchen vom Diesseits ins Jenseits übersetzen – um dort weiterzuleben. Saskja schliesst ihre Tochter in die Arme, hat diesen ergebenen Blick, den jede Mutter hat, wenn ihr Kind leidet. Sie sagt zu ihr, dass Bruusli ein kurzes, aber immerhin schönes Erdenleben gehabt habe.
Die Kraft des Mutter- und Pflegetriebes
Was braucht es, damit eine Tiermutter das Junge einer anderen Tierart aufnimmt? Claudia Helbling, Tierpsychologin aus Wila/ZH gibt Auskunft.
Welt der Katze: Frau Helbling, wie oft kommt es vor, dass ein Tierweibchen ein artfremdes Findelkind aufzieht?
Claudia Helbling: Das gibt es immer wieder, vor allem bei Heimtieren. Sie sind produktiver als Wildtiere, sind also häufiger trächtig oder im Fall von Hündinnen auch scheinträchtig. In diesen Phasen ist ihr Mutter- und Pflegetrieb so ausgeprägt, dass sie auch Tierkinder fremder Arten aufnehmen.
Welche Kombinationen sind denkbar?
Helbling: Die Varianten sind mannigfaltig. So wie der Kuckuck anderen Vögeln ein Ei unterjubeln kann, so können Menschen ihrem Haustier ein anderes Heim- oder Wildtier anvertrauen. Eine Hündin kann beispielsweise ein Meerschweinchen oder ein Fuchsjunges annehmen. Eine Katze, die bereits mit Mäusen aufgewachsen ist und sie daher als Sozialpartner betrachtet, kann auch ein Mäuschen adoptieren. Ebenso kann eine Hündin ein Katzenjunges aufziehen oder umgekehrt.
Kann der Tierhalter das Muttertier positiv beeinflussen, damit die Adoption eher klappt?
Helbling: Ja, ich denke das Verhalten des Menschen spielt dabei sicher eine Rolle.
Was soll man tun, wenn man ein junges Wildtier findet?
Helbling: Am besten meldet man es dem Wildhüter oder bringt es in eine Tierklinik. Ich persönlich bin gegen das Adoptieren von Wildtieren, weil es problematisch ist, sie wieder auszuwildern. Wie soll ein Eichhörnchen, das von einer Katze aufgezogen wurde später im Wald überleben? Es hat seine natürliche Angst vor einer Katze verloren. Oder nehmen wir einen jungen Rehbock. Wenn der mal gross ist und keine Angst vor Menschen hat, dann kann er sie auch angreifen, das ist gefährlich.
Aber man kann doch so ein Findeltier nicht einfach sich selbst überlassen. Es würde mit grosser Wahrscheinlichkeit sterben.
Helbling: Ja, auch wir Menschen haben schliesslich einen starken Pflege- und Beschützertrieb. Es ist eine heikle, philosophische Frage, ob man Wildtiere sich selbst überlassen oder sie artentfremdet aufziehen soll. Da können wir Menschen zu viel durcheinander bringen. Jeder, der ein Wildtier „adoptiert“ sollte sich auch der Verantwortung bewusst sein, dass es erwachsen wird und der Art entsprechend leben möchte.
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