Leseproben und Projektbeschriebe

Krippengeschichten

Die ersten Tage in einer Kinderkrippe sind für ein Kind eine grosse Herausforderung. Wichtig ist, dass sich die Eltern viel Zeit für die Eingewöhnungsphase nehmen – und dass sie dem Krippenpersonal Vertrauen schenken können.

Zwei grosse Augen, das grosse Erstaunen: Welch Wunderwelt gibt es hier zu bestaunen! Ein Häuschen in Tomatenform, Einkaufswägelchen in Zwergengrösse, gleich sieben Roller aufs mal – und so viele andere, unbekannte Kinder. Anaïs’ grosse Augen schauen begehrend; sie nähert sich zaghaft einem überdimensionierten Stoffwürfel, klettert auf einen Roller, trollt sich schliesslich auf der Spielmatratze. Entdecken, spielen, sich selbst vergessen… doch: wo ist Mutter? Ein rascher Blick über die Schulter: Mutter ist da, die Welt ist in Ordnung. Die zweijährige Anaïs verbringt ihre ersten Stunden in der Kinderkrippe.

Was aber fällt der Mutter denn nun ein? Klemmt die doch ihre Handtasche unter den Arm und erklärt Anaïs, dass Mami nun fortgehen werde. Nein! Begreift die denn nicht: N-E-I-N! Weinen, klammern, sich ängstigen. Was eben noch den Glanz eines Kinderparadieses verströmte, gleicht nun der Requisitensammlung einer Geisterbahn: ohne Mami ist es hier fürchterlich, im wahrsten Sinne des Wortes.

«Kinder, die neu in eine Krippe eingeführt werden, sind in einer grossen Spannung», erklärt Jeremy Hellmann, Sozialpädagoge am Zürcher Marie Meierhofer-Institut für das Kind. Sie wollen die neuen Spiele ausprobieren, die anderen Kinder kennen lernen, ihre Neugier stillen. Zugleich brauchen sie eine sichere Rückzugsmöglichkeit, eine vertraute Basis, also die Mutter, den Vater oder wer auch immer die gewohnte Bezugsperson des Kindes ist. Erst wenn ein Kind in der Krippe neue Vertraute gefunden hat, kann es sein Mami, seinen Papi beruhigt ziehen lassen. Das kann einige Wochen oder gar länger dauern. Generell, so Hellmann, werde der emotionale und zeitliche Aufwand der Einführungsphase unterschätzt.

Deshalb legt eine gute Krippenleiterin Wert darauf, dass die Eltern das Kind in der Eingewöhnungsphase begleiten und die ersten Stunden bei ihm in der Krippe bleiben. «Das wichtigste ist, dass sich die Eltern viel Zeit dafür nehmen», weiss Pia Barmettler, die seit 16 Jahren die Kinderkrippe in Uster ZH führt. In ihrer Tagesstätte werde die Anwesenheit der Mutter oder des Vaters mit jedem Tag etwas verkürzt; am dritten, vierten Tag verlasse das Mami auch mal für eine halbe Stunde den Raum. Das Kind lernt so, dass die Mutter immer wieder zurückkommt. Und es merkt, dass es sich in ihrer Abwesenheit auch bei einer Betreuerin Trost, Wärme und Sicherheit holen darf.

Das bedingt indes, dass die Mutter das Kind auch innerlich loslässt und es ihm zutraut, dass es sich in der neuen Situation zurechtfinden wird. «Die Eltern müssen von der Krippe überzeugt sein und dem Personal vertrauen können, sonst übertragen sie ihre Zweifel auf das Kind», sagt Pia Barmettler. Dabei mag der Gedanke helfen, dass dieser manchmal schmerzhafte Ablösungsprozess völlig normal ist und dass der Krippenbesuch für das Kind «eine Bereicherung» sei, wie es Pia Barmettler ausdrückt. «Die Kinder profitieren bei uns vom einer Art Grossfamiliensystem, sie können in einem grossen Garten die Natur entdecken, mit anderen Kindern ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln und sie werden von uns in ihrer individuellen Entwicklung gezielt gefördert.»

Galten Krippen einst als trostlose Bewahranstalt für Kinder aus armen Arbeiterfamilien, werden sie heute zunehmend als pädagogisch wertvolle, liebevolle Dienstleistung verstanden. So seien die Eltern, die ihre Kinder in einer Tagesstätte betreuen lassen, meist vom Angebot überzeugt und wüssten es zu schätzen, sagt Pia Barmettler: «Allerdings werden viele dieser Eltern von ihrer Umgebung noch immer mit dem Vorurteil konfrontiert, sie würden ihre Kinder abschieben, insbesondere wenn sie kleine Babys bringen.» Dabei erfährt manches Kind in der Krippe mehr Aufmerksamkeit und Förderung, als wenn es mit der Mutter alleine zu Hause bleibt. Denn im Gegensatz zu einer Hausfrau sind die Krippenmitarbeiterinnen ausschliesslich für die Kinder da und müssen keine Hausarbeiten erledigen. Zudem haben sie dasselbe Bestreben wie die Eltern: dass es dem Kind gut geht und es sich wohlfühlt.

Auf dies gilt es zu vertrauen, wenn jene Situation eintrifft, die sich oft nicht vermeiden lässt: Obschon sich das Kind nach einigen Tagen der Einführung mit der neuen Situation vertraut gemacht hat, schreit es herzerschütternd, wenn sich die Eltern von ihm verabschieden. Fachleute wissen: Es handelt sich hierbei um einen normalen Abschiedsschmerz und nicht um ein grundlegendes Unwohlsein. Gewöhnlich versiegen die Tränen kurz nachdem die Mutter gegangen ist. Das Kind lässt sich von einer Betreuerin trösten und wendet sich zufrieden dem Spiel zu. Bloss kann die Mutter diese positive Wende nicht mehr miterleben. Sie verlässt die Krippe mit dem Schreien ihres Kindes im Ohr. «Das ist sehr schmerzvoll», sagt Bigna Saner, eine Zürcher Kleinkinderzieherin und Mutter von zwei Buben, «es trifft eine Mutter im tiefsten Inneren, wenn ihr Kind so weint.»

Als Bigna Saner vor Jahren noch als Gruppenleiterin in einer Krippe tätig war, war sie zuweilen mit Müttern konfrontiert, die ihrer Meinung nach zu viel Aufhebens um den Abschied machen. Mittlerweile bringt sie ihre Söhne auch in eine Tagesstätte und hat den Abschiedsschmerz selbst erfahren. «Wenn sich mein Jüngster verzweifelt an mich klammert, da fällt es mir schwer, ihn abzugeben. Ich hinterfrage mich dann sehr», erzählt sie. Dennoch empfiehlt sie, den Abschied nicht unnötig hinauszögern. Denn ein Hin und Her oder ein langes Argumentieren mit dem Kind seien für alle Beteiligen, für das Kind, die Mutter und das Personal kontraproduktiv.

Wenn man spüre, dass es nun Zeit zum Aufbruch sei, sagt auch Sozialpädagoge Jeremy Hellmann, dann solle man «klar dazu stehen und nach kurzer Verabschiedung die Krippe verlassen». Auf keinen Fall sollte man sich davonschleichen, weil sich das Kind so betrogen fühlen wird. Eltern dürfen zudem darauf vertrauen, sagt Hellmann, dass ihr Nachwuchs durchaus in der Lage ist, schwierige Erfahrungen zu bewältigen und dadurch zu erstarken – vorausgesetzt, dass das Kind das grundlegend nötige Vertrauen in sich und seine Umgebung hat.

Wie sieht die Situation einige Monate später aus? Nehmen wir erneut das Beispiel von Anaïs. Die ersten verunsichernden Tage sind längst vergessen. Anaïs tanzt mit ihren kleinen Freunden gerade «Ringelreihe» als das Mami auftaucht. Freudig saust das Mädchen durch den Raum, zeigt der Mutter die Bilder, die es gemalt hat, lümmelt sich auf der Matratze und sperrt sich schliesslich im Tomatenhäuschen ein. Doch plötzlich schiessen aus zwei grossen Augen die Tränen hervor – Mami hat zum Aufbruch gerufen. N-E-I-N! Begreift das Mami denn nicht! Anaïs möchte so gerne noch etwas länger bleiben und weiterspielen.

Wie erkennt man eine gute Krippe? Die Tipps

  • Studieren Sie die Betriebsrichtlinien und das Elternmerkblatt der Krippe und achten Sie darauf, ob diese Ihren Wert- und Erziehungsvorstellungen entsprechen.
  • Prüfen Sie die Personalsituation. In der Regel kommen auf eine ausge­bildete Mitarbeiterin zwei nicht-ausgebildete.
  • Suchen Sie schon vor der Anmeldung des Kindes das Gespräch mit der Krippenleitung. Achten Sie darauf, ob die «Chemie» stimmt. Es ist wichtig, dass Sie dem Krippenpersonal vertrauen können. Eine offene, partnerschaftliche Stimmung zwischen Eltern und Personal ist Grundvoraussetzung.
  • Machen Sie mit Ihrem Kind vor dem Eintritt einen Besuch in der Krippe und schauen Sie, ob sich ihr Kind dort wohl fühlt. Beobachten Sie, wie das Personal auf ihr Kind zugeht. Ist Ihnen dies sympathisch?
  • Achten Sie auf die räumlichen Verhältnisse und die Einrichtung: Kindertagesstätten sollen Ruhe- und «Lärm»-Räume bieten sowie liebevoll, anregend und kindergerecht eingerichtet sein.
  • Prüfen Sie, ob die Krippe auf gesunde Ernährung und maximale Hygiene ausgerichtet ist.
  • Machen Sie Ihren Entscheid letztlich davon abhängig, was Ihnen Ihr Herz sagt.
Das ideale Alter für den Eintritt

Grundsätzlich können Kinder jedes Alters in eine Kindertagesstädte eintreten. Auch Säuglingen bereitet es in der Regel keine grossen Probleme, sich auf die neue Situation einzustellen. Da die meisten Mütter einen dreimonatigen Mutterschaftsurlaub geniessen, nehmen viele Krippen keine Säuglinge unter sechs Wochen. Gewöhnlich kommen Kinder rund um den 8. Monat in die Phase des «Fremdelns», es ist daher ratsam, sie nicht während dieser, einige Wochen andauernden Periode, in eine Kinderkrippe einzuführen. Kleinkinder bis drei Jahre spielen oft «nebeneinander» her und nicht miteinander. Das ist normal und kein Zeichen, dass sie noch nicht reif für das Spiel mit anderen wären. Im Gegenteil: Auch im «Nebeneinader» nehmen sie andere Kinder sehr gut wahr, freuen sich an ihnen und lernen voneinander.

Literatur:

  • «Ohne Eltern geht es nicht – Zur Eingewöhnung von Kindern in Krippen und Tagesfamilien», Hans-Joachim Laewen, Luchterhand, Neuwied/Berlin 2000
  • «Die ersten Tage in der Kippe», Hans-Joachim Laewen, Luchterhand, Neuwied/Berlin 2000
  • «Tagesfamilien. Eingewöhnung», Heft Nr. 75/Dezember 2002, Pro Juventute, Tel. 01 256 77 55.

Gabriela Bonin | Copyright 2018 | Impressum | DatenschutzAGB | Sitemap