Leseproben und Projektbeschriebe

Komplizen für eine bessere Welt

(PDF oder online-Version im Migros Magazin) Die drohende Aussicht auf geklonte Menschen und genetisch optimierte Designer-Babys oder die Angst vor Brustkrebs in der Art von Holywood-Ikone Angelina Jolie: Was heute Schlagzeilen macht, war zu Zeiten des …

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Die drohende Aussicht auf geklonte Menschen und genetisch optimierte Designer-Babys oder die Angst vor Brustkrebs in der Art von Holywood-Ikone Angelina Jolie: Was heute Schlagzeilen macht, war zu Zeiten des spanischen Dichters Calderón noch undenkbar.

Dennoch wusste Calderón um das Bangen und Hoffen der Erdenkinder, als er anfangs des 17. Jahrhunderts “Das Grosse Welttheater“ schrieb: Ein Stück über das Leben der Menschen vor dem prüfenden Beurteilung ihres Schöpfergottes. Wie gehen seine Kreaturen durch die verschiedenen Rollen, die er ihnen auf der Welt verliehen hat?

Vierhundert Jahre später hat der deutsche Autor Tim Krohn das „Welttheater“ neu entworfen und lässt Calderóns archetypische Figuren durchs Leben der Neuzeit taumeln: Rund 300 Bühnendarsteller führen das Dilemma des modernen Menschen vor Augen, der mehr Möglichkeiten hat, als er nutzen kann – und sein eigener Schöpfer sein will. Es geht um die Frage nach dem perfekten Menschen. Die Regie führt Beat Fäh.

Das grösste Barockkloster der Schweiz, auf dessen Vorplatz das Stück aufgeführt wird, bietet dazu eine gebührliche Kulisse. Während der Aufführung des „Einsiedler Welttheaters“ wird die Klosterfassade mit Digitalprojektionen trickreich transformiert: Zu wuchernden Pflanzenwänden, schroffen Felsen und lodernden Feuersbrünsten – verblüffend echt.

Das dramatische Freilicht-Spektakel zeigt einen doppeltem Effekt: Vor den Kulissen des Einsiedler Klosterplatzes dient es als Denkanstoss für das Publikum, hinter den Kulissen drängt es sich ins Innenleben der Mitwirkenden und macht die Einsiedler „zu Komplizen einer gemeinsamen Sache“, so Regisseur Fäh – dies bereits seit Generationen, weil sie ihr Theater seit 1924 regelmässig aufführen (siehe Box).

Dabei wirft das Stück grosse Fragen auf: Kann man mit den eigenen Seelenkräften das Schicksal beeinflussen? Lassen sich Krankheit und Tod überwinden? Kann man seiner Rolle, die man auf Erden zu spielen hat, entgehen? Die Auseinandersetzung mit der Welt als Bühne entfaltet in Einsiedeln eine Tiefenwirkung: Sie wird Teil der Einsiedler Identität.

Schliesslich gibt es kaum einen in der Gegend, der nicht selbst als Kind einmal im „Einsiedler Welttheater“ mitgespielt hat oder dessen Vater, Cousine, Bruder oder Freundin daran beteiligt war – sei es als Laienschauspielerin, Schneider, Platzanweiserin oder Bühnentechniker. Pro Spielperiode sind die Beteiligten über Monate hinweg für ihr Theater engagiert, geprobt wird nach der Arbeit in der Freizeit, manchmal vier Abende in der Woche und zusätzlich Samstag: „Das erfordert grossen Einsatz, dennoch empfinde ich diese Periode wie ganz besondere Ferien“, sagt der Arzt Zeno Schneider, der dieses Jahr als „der Reiche“ eine Hauptrolle einnimmt, und sich darum in seiner Arztpraxis zwei Monate lang von einem befreundeten Arzt vertreten lässt (siehe Porträts).

Insgesamt beteiligen sich rund 500 Mitwirkende vor und hinter den Kulissen.  Ihre Hingabe auf ein gemeinsames Ziel schweisst sie zusammen, unabhängig von Herkunft, Status und Gesinnung: Kinder, Jugendliche und Alte machen gemeinsame Sache – von Generationenkonflikten keine Spur. Ausländer, Schwule, Behinderte gehören selbstverständlich dazu – Ausgrenzung undenkbar! Ordensgeistliche, Hausfrauen, Akademiker und Arbeiter arbeiten Hand in Hand – im Spiel verlieren sich die Abgrenzungen zwischen den sozialen Schichten. Ebenso versteht es sich von selbst, dass Gläubige und Gotteszweifler übereinstimmend ihr Bestes geben.

Im Schneideratelier des „Welttheaters“ erzählen die Näherinnen etwa, dass auch ein Mann aus „Bosnien oder so einem Land“ mitspiele. Im echten Leben putze er, im Theater spiele er einen Polizisten. Nichts helfe einem Ausländer in Einsiedeln mehr, sich zu integrieren, als die Beteiligung am „Welttheater“, darin sind sich alle einig.  Kalli Kälin, die vor Jahrzehnten als Deutsche nach Einsiedeln zog, spürt den Integrations-Effekt auf allen Ebenen: „Die Arbeit am Welttheater half mir, hier ein Gefühl für Heimat zu entwickeln“, sagt die Leiterin der Einsiedler Theatergruppe „Fremde Vögel“. Auch stelle sie fest, dass man in ihrer Gruppe „schon gar nicht mehr wahrnimmt, wer behindert ist und wer nicht.“, Die „Fremden Vögel“ setzen sich aus Behinderten und Nichtbehinderten zusammen und beteiligen sich dieses Jahr als „Schräge Vögel“ im „Welttheater“.

Die künstlerische Leitung des „Welttheaters“ zeigt sich denn auch tief beeindruckt vom geeinten Eifer und Können der Einsiedler: So grosse Kompetenz unter Laien habe er noch nie erlebt, sagt Autor Tim Krohn. Carolin Mittler, die Verantwortliche für Kostüme und Bühnenbild, schwärmt vom überdurchschnittlichen Einsatz und grossen Fertigkeiten der Näherinnen, Schneider und Strickerinnen. Regisseur Beat Fäh schöpft daraus freudige Zuversicht: „Das Welttheater wirft hochaktuelle, ethische Fragen auf und es freut mich, dass wir mit dem Schauspiel einen Beitrag dazu leisten können“ sagt er.

Das Wichtigste aber sei, was mit den Spielern in diesem Theaterbegeisterten Dorf geschehe: Fäh sieht die frohe Botschaft nicht so sehr im Stück an sich, sondern auf einer Meta-Ebene – nämlich in der „sensationellen Beigeisterungsfähigkeit und im Zusammenhalt der Einsiedler“: „Das stimmt mich extrem optimistisch“, sagt er, „es ist eine Chance in dieser Welt.“

Fotos: Tina Steinauer

Box: Modernes Mysterienspiel

Am 21. Juni 2013 wird in Einsiedeln die 16. Spielperiode des „Welttheaters“ eröffnet. Das Mysterienspiel des spanischen Dichters Calderón wird in einer Neufassung des Theater- und Romanautoren Tim Krohn aufgeführt: Lakonisch, spielerisch und berührend zugleich. Regie führt Beat Fäh.

Das „Welttheater“ wird als traditionsreiches Freilichtspiel seit 1924 auf dem Platz vor der barocken Klosterkirche in Einsiedeln gespielt, zuletzt im Jahr 2000 unter der Regie von Volker Hesse.

Vom 21. Juni bis 7. September 2013 sind 41 Aufführungen geplant. Spielbeginn: 20.45 Uhr, Spieldauer: 1 ¾ Stunden, ohne Pause.

Mehr Infos: www.welttheater.ch

Tickets:

  • Online: Ticketcorner www.ticketcorner.ch, Telefon 0900 800 800 (Fr. 1.19/min. Festnetz)
  • Tageskasse, Gruppenbuchungen, Reservation Rollstuhlplätze: Spielbüro, Telefon +41 55 422 16 92

Herrenschneider Josef „Sepp“ Ochsner, 90undNoa von Gunten, 9:

Sie leben in verschiedenen Welten und arbeiten dennoch auf ein gemeinsames Ziel hin: Der älteste und der jüngste Mitarbeiter des „Welttheaters“ leisten nach besten Kräften ihre Einsätze. Diesen Sommer wird Sepp Ochsner 90 Jahre alt und Noa wird 9. Ochsner näht die Hosen für den „Präsidenten“ und den „Reichen“ im Stück; Noa erledigt Botengänge für seine Mutter Carolin Mittler, die Verantwortliche für Bühnenbild und Kostüme. Er sortiert auch gerne Kleider, serviert den rund zwanzig Schneiderinnen im Kostüm-Atelier Kaffee und hält sie bei Laune. Dann etwa, wenn er der 84-jährigen Schneiderin Alice kleine Briefe schreibt, unterzeichnet mit „Dein Noa“.

Sepp Ochsner war wie Noa noch ein Kind, als er sich 1937 erstmals für das „Welttheater“ engagierte: Der damals 14-Jährige spielte einen Engel. Für die späteren Spielperioden war er dann öfter als Herrenschneider tätig. Das sei immer „glatt“ gewesen, denn „nach dr Arbeit simmer no eis go ha“, erzählt er. Heute wolle er nicht mehr volle acht Stunden am Tag nähen, zuweilen plagten ihn auch Arthrose-Schmerzen, aber die Arbeit tue ihm gut, „so habe ich was zu tun“. Auch seine Frau, mit der er nun seit sechzig Jahren verheiratet ist, hat in jüngeren Jahren oft als Darstellerin auf der Bühne mitgewirkt.  Moser sagt, sie sei ein „Engel oder so was“ gewesen.

Einem blonden Engel gleich wuselt Noa durchs Atelier und wenn seine Mutter wegen ihrer Arbeit mal gestresst ist, dann flüchtet er sich nach vorne zu den Arbeitsplätzen der Schneiderinnen, die seinen ja alle fast wie Grossmütter. Die meisten von ihnen sind pensioniert, denn wer noch voll berufstätig ist, dem fehlt die Zeit, um während Monaten vollen Einsatz im Kostüm-Atelier zu leisten.

In der Zvieri-Pause serviert Noa den Schneiderinnen Kuchen. Sie erzählen, ihre Arbeit sei wie ein Fieber, das alle anstecke. Selbst die Schwiegermutter von Autor Tim Krohn sei vom „Welttheater“-Virus“ ergriffen. Sie lebe in St. Gallen, habe anfangs nur ein wenig mit nähen wollen – inzwischen aber, so freuen sich die Schneiderinnen, komme sie immer öfter nach Einsiedeln und sei richtig „angefressen“.

Patrick Della Valle, 31, im echten Leben Koch, im „Welttheater“ eine Himmelshirtin

Schon als Kind an der Fasnacht hat sich Patrick Della Valle immer gerne als Frau verkleidet, selbst wenn ihn die Kollegen dafür ausgelacht haben. Heute, an der ersten Anprobe für sein Glitzerkostüm, steht ihm die Freude ins Gesicht geschrieben: Man hat ihm für seine Rolle als Himmelshirtin eine traumhafte Robe auf den Leib massgeschneidert – und diesmal wird keiner lachen.

Della Valle trägt die Festrobe mit Grandezza, schliesslich hat er einst die Modeschule in Mailand absolviert und einige Jahre in Italien als Model gearbeitet.

Der Sohn eines italienischen Vaters und einer serbischen Mutter arbeitet zu achtzig Prozent als Koch. Die Teilzeitarbeit erlaubt es ihm, die nötige Zeit für die Proben am „Welttheater“ aufzubringen. Er liebe seinen Beruf, aber auch an der Schauspielerei als leidenschaftliches Hobby liege ihm viel. Zum Glück zeige sein Arbeitgeber dafür Verständnis und gewähre ihm die nötige Zeit für die Proben.

Patrick Della Valle verkörpert im „Welttheater“ eine der zwei Himmelshirtinnen. Sein Bruder spielt als „der Schöne“ ebenso in einer Hauptrolle. Auf der Bühne führt Della Valle zwei afghanische Windhunde an der Leine. Nebst der normalen Berufsarbeit bedeuten die Extra-Trainings mit den Hunden und die vier Monate des Probens „viel Arbeit“, sagt Della Valle, aber das alles lohne sich sehr.

Schon vor sieben Jahren hat Patrick Della Valle am „Welttheater“ mitgewirkt. Damals sei seine Gruppe durch die vielen Proben eng zusammengewachsen. „Wir waren wie eine Familie“.

Dieses Mal gehe es für ihn persönlich um mehr als ums blosse Mitmachen. Seine jetzige Rolle sei ihm sehr wichtig: „Die Himmelhirtin ist ein Teil von mir“, sagt er. Ausserdem wolle er damit ein Zeichen für alle Schwulen setzen und sie zu einem Outing ermutigen: „Habt keine Angst!“

Kalli Kälin, 59, Leiterin der Theatergruppe „Fremde Vögel“ mit den Teenagern Gian, Jan und Neil

Vielleicht, so lacht Kalli Kälin, seien sie alle zusammen einfach „Rampensäue“: Ihre ganze Familie und die Einsiedler Theatergruppe „Fremde Vögel“, die sie leitet. Kalli Kälins Mann Peter ist der Präsident der Welttheatergesellschaft. Er hat wie sie, ihre drei Söhne und die eine Tochter immer wieder auch am „Welttheater“ mitgewirkt oder mitgespielt. Veit, ihr drittes Kind, der heutige technische Leiter des „Welttheaters“, war 1981 gerade mal erst drei Monate alt als seine Mutter sich erstmals für eine kleine Rolle verpflichte.

Nach drei Spielperioden in Nebenrollen wünschte sich Kalli Kälin im Jahr 2000 eine grössere Rolle. Wegen ihrer sozialen Ader bot man ihr an, in einer Gruppe mit Menschen mit Behinderung am Welttheater mitzuspielen: „Ich nahm dieses Angebot ehrlich gesagt nur an, damit ich eine spezielle Rolle bekam“, gesteht sie. Die erste Begegnung mit den Behinderten sei ihr eher unangenehm gewesen, aber als sie deren starken Ausdruck an der erste Probe sah, sei es wie Schuppen von ihren Augen gefallen: „Ich dachte, wenn ich in meinem Leben wirklich etwas lernen kann, dann hier in dieser Gruppe. Diese Menschen haben etwas, das wir nicht haben!“

Kalli Kälin ist begeistert vom „authentischen Ausdruck“ behinderter Schauspieler, findet die Arbeit mit ihnen spannend und bereichernd. Regisseur Beat Fäh, der auch mit dem bekannten Behindertentheater Hora Erfahrungen gesammelt hat, weiss um diese Kraft. Als er im Einsiedler Café zufällig sah, wie der 12jährige gehirngeschädigte Jan impulsiv eine Serviertochter umarmte, bat er gleich dessen Mutter, Jan im „Welttheater“ mitspielen zu lassen. „Jan ist unser Chaosfaktor“, sagt Kalli Kälin, es sei immer unvorhersehbar, wie er sich verhalte, darum habe sie eine grosse Verantwortung für ihn auf der Bühne, aber „er spielt seine Rolle perfekt.“

Sein Kollege Gian meldet sich nun zu Wort und erklärt, der Begriff „behindert“ gefalle ihm gar nicht, es wäre ihm lieber man bräuchte dieses Wort nicht, denn er sei einfach ein Mensch und wolle „gut schauspielern.“ Autor Krohn spricht ihm im Stück mit diesem Ausruf wohl aus dem Herzen: „Nöd jedä Hick i dr Birä isch ä Chranked.“

Kalli Kälin selbst stellt im aktuellen Spiel eine autistische Figur dar, jemand, der ausserhalb des Geschehens steht. Dessen entrückte Daseinsform habe für sie, so sagt sie lachend, ein gewisses „Suchtpotential“.

Zeno Schneider, 62, im echten Leben Arzt, im „Welttheater“ der „Reiche“

Mit einem gewissen Schaudern hat er in diesen Tagen die Titelstory der „Zeit“ gelesen: Das Blatt berichtete von amerikanischen Forschern, die mittels embryonaler Stammzellen einen genetisch optimierten Menschen klonen können. Ist das ein Segen? „Es ist ein ethisch schwerwiegender Paradigmawechsel in der Medizin“, sagt Zeno Schneider. Als Krebsspezialist ist er sich der Tragweite medizinischer Möglichkeiten bewusst, hat viele Patienten begleitet, die dem Tod in die Augen schauen mussten.

Im Welttheater spielt er „den Reichen“: Dieser wird mit seiner Veranlagung zu einer tödlichen Krankheit konfrontiert und will seine Heilung mit Geld erkaufen. „Das Welttheater ist modellhaft für das Leben in der Welt“, sagt er, „daher ist es adaptierbar für neue Inhalte.“ Er spiele im Stück einen „Kotzbrocken“, hart, arrogant und abweisend. Erst habe er Widerstände gegen diese unsympathische Figur gehegt, „sobald mir aber klar war, was die Rolle erfordert, war sie gut für mich“.  Immerhin findet der Reiche im Stück zu gewissen neuen Erkenntnissen, verrät Schneider, es sei eben wie im echten Leben: „Eine Krankheit kann eine Chance sein, zu einer neuen Lebenshaltung zu gelangen“.

Schneider hätte nie gedacht, dass er je in Einsiedeln bleiben würde. Er stammt aus Wettingen AG und besuchte als Jugendlicher die Stiftsschule in Einsiedeln, wo er im Internat lebte – ein Jahrgang vor ihm war Thomas Hürlimann, der Autor der  beiden „Einsiedler Welttheater“ von 2000 und 2007 ein Jahrgang nach ihm der heutige Regisseur Beat Fäh.

Nach seinem Studium Fribourg und Zürich kam Schneider der Liebe wegen nach Einsiedeln zurück. Seit 1988 spielt er in der traditionsreichen Einsiedler Theatergruppe „Chärnehus“, hat wie auch seine Frau und sein Sohn, bereits etliche Male am „Welttheater“ mitgemacht. „Das Dorf ist dann jeweils im Ausnahmezustand“, sagt er, „Die Mitwirkenden haben einen Anspruch an sich, den man in der Gesellschaft nicht mehr oft findet“. Die Proben für eine Hauptrolle erforderten „überdurchschnittliche Motivation“ und Regisseur Fäh verlange viel. „Mich beeindruckt es, wie auch Kinder und Jugendliche unglaublich diszipliniert mitarbeiten. Ich kann mich nicht an einen einzigen erinnern, der je gemotzt hätte“, sagt er, denn: „Wir haben alle dieses gemeinsame Ziel vor Augen.“

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