Leseproben und Projektbeschriebe

Beruf mit besten Aussichten

Sie reinigen Panoramafenster, bauen Hochspannungsmasten und montieren Werbeplakate an Fassaden. Industriekletterer sind dort im Einsatz, wo Normalsterbliche weiche Knie bekommen.

So viel Unterhaltungswert hätten sie der Schweiz kaum zugetraut: Drei philippinische Touristinnen haben soeben den Nervenkitzel in der weltweit steilsten Zahnradbahn genossen. Oben angelangt spähen sie durch die Panoramafenster des Hotels Pilatus Kulm auf 2132 Metern über Meer: Bei den Steilwänden, nur einen Steinwurf von ihnen entfernt, bringt eine Muttergämse ihrem Zicklein Sprünge bei.

Doch dann – die Filipinas kreischen jäh auf. Schwebt hinter ihrem Aussichtsfenster plötzlich ein Mann, 500 Meter über dem Felsabgrund. Mitten in der James-Bond-Atmosphäre, die der futuristisch-gläsernen Rundbau ausstrahlt. Dahinter zwei weitere Männer, in leuchtend orangen Monteuranzügen hantieren sie nebeneinander in ihren Seilen.

Eine Show für Touristen? Nein, die Männer machen sauber – dort, wo sich keine gewöhnliche Putzequipe hinwagen würde: Die Männer reinigen die Aussenseite der Panoramafenster. Sie sind Industriekletterer, Mitarbeiter der Firma «Nordwand» aus Beromünster LU, die sich mit einem Augenzwinkern gerne auch als «Gebäude-Alpinisten» bezeichnen.

Als Höhenarbeiter kommen sie dort zum Einsatz, wo die Arbeit mit Gerüsten, Kränen oder Bauliften unmöglich oder zu gefährlich wäre: Bei Reinigungen von unzugänglichen Fassaden, Reparaturen von Schornsteinen, Wartungsarbeiten an hohen Gebäuden, Installationen von Werbe-Bannern oder bei der Montage von Suizidnetzen.

Kichernd drücken die drei Filipinas einer Passantin ihre Kamera in die Hand, posieren vor dem Arbeiter im Seil: «photo please!». Der Industriekletterer lächelt den jungen Frauen durch die Scheibe zu, während sein Chef Laurent Lavignac, 54, im Hintergrund der Panorama-Halle die Szene schmunzelnd beobachtet. «Die Leute reagieren oft belustigt auf uns. Im ersten Moment glauben sie, wir seien Akrobaten oder Zirkusartisten», sagt der Geschäftsführer von «Nordwand». Oder sie erschrecken, bangen um die Sicherheit der Arbeiter. Allerdings ohne Grund: Die wenigsten Vorhaben in der Baubranche werden so konsequent gesichert wie jene der Industriekletterer.

Auf 100000 geleistete Arbeitsstunden im Seil passieren nur 2,12 Vorfälle, so die Statistik des internationalen Verbandes der Industriekletterer IRATA (Industrial Rope Access Trade Association). Diese Quote liege weit unter jener anderer vergleichbarer Fachverbände, schreibt die IRATA auf ihrer Website. Auch die SUVA sorgt mit ihrer Bauarbeiterverordnung dafür, dass die so genannte Seilzugangstechnik – korrekt ausgeführt – eine sichere Arbeitsmethode ist.

Lavignac überwacht die Arbeit seines Teams an der Fassade des Pilatus Kulm denn auch in aller Ruhe. Er gilt als Pionier in der hiesigen Höhenarbeiter-Branche. Der gebürtige Franzose zog vor bald zwanzig Jahren in die Schweiz. Zusammen mit seiner Schweizer Ehefrau Lotti gründete er 1998 die Nordwand GmbH. Zu jener Zeit war sein in Frankreich und England bereits etablierter Beruf in der Schweiz weitgehend unbekannt. Wohl hatten Alpinisten zu Beginn des letzten Jahrhunderts auch hierzulande Kirchtürme und andere Hochbauten bestiegen, um sie zu reinigen oder zu flicken. Doch dann ging man zusehends zum Einsatz von Gerüsten, Kränen oder Hebebühnen über.

Diesem schweren Geschütz hält Lavignac seine stillere, anspruchslosere Arbeitsmethode entgegen: «Wir Seilarbeiter benötigen keine lauten Motoren oder Kompressoren», erklärt er. Da sich Höhenarbeiter in der Regel von oben herab abseilen, brauchen sie keinen Raum auf dem Boden, wie dies etwa Gerüste verlangen. «Wir stören daher niemanden und arbeiten ökologisch.»

Oft kommen die Fachkenntnisse der Höhenarbeiter schon vor dem Gebrauch eines Seils zum Zug. Architekten ziehen sie während der Planung eines Gebäudes zu Rate: So wurden etwa auf dem Pilatus bereits während des Baus in den Vorsprüngen oberhalb der Panoramafenster Eisenschienen in den Beton eingelassen, damit sich die Höhenarbeiter für die Reinigung der Scheiben stets sicher einschienen können.

Die Zusammenarbeit mit Architekten war zu Beginn der Schweizer Höhenarbeit noch ungewöhnlich: «Früher kam es öfter vor, dass der Bauherr erst nach Fertigstellung eines Baus bemerkte, nicht an die Wartungsarbeiten gedacht zu haben», erzählt Lavignac. Noch vor fünfzehn Jahren begegnete die Schweizer Baubranche den Industriekletterern allgemein mit Skepsis. «Die Verantwortlichen in der Gebäudetechnik hatte wohl Angst vor dem Neuen», vermutet er, «und die Kran-Vermieter sträubten sich gegen unsere Konkurrenz.» Zudem mangelte es an Sicherheitsstandards.

Das war einmal: Inzwischen kommen Industriekletterer in der Reinigungs- und Baubranche, in der Felssicherung oder in der Event-Technik immer öfter zum Einsatz. Rund vierzig Anbieter gibt es in der Schweiz – Tendenz steigend. Seit 2006 schreibt die SUVA Ausbildungsstandards vor, stellt höhere Schutzstufenanforderung an das Arbeitsmaterial als dies etwa bei Sportkletterausrüstungen verlangt wird. Mehrere Branchenverbände bieten SUVA-anerkannte Ausbildungen an. Für Arbeiten am hängenden Seil dürfen nur Profis eingesetzt werden, die über eine entsprechende Ausbildung verfügen.

Laurent Lavignac, der sich beharrlich für die Akzeptanz der Höhenarbeit in der Schweiz einsetzt, hat die Ausbildung Level 3 absolviert. Diese höchste Stufe berechtigt ihn, als Ausbildner oder Prüfungsexperte zu wirken. Doch Fachwissen allein genüge nicht, um Höhenarbeiter zu sein, sagt Lavignac, Vater von fünf Kinder und nebenberuflich Yoga-Lehrer. «Genauso wichtig sind Achtsamkeit und ein bedachtes Wesen.» Wie die meisten Höhenarbeiter hat er sich aus Leidenschaft für seine Arbeit entschieden, zumal er sich auch in seiner Freizeit als Bergsteiger gerne ins Seil hängt. Bei der Auswahl seiner Mitarbeiter achtet er denn auch darauf, dass diese Freude für Tätigkeiten in der Höhe aufbringen.

So wie Karen Geyer, 37, die bei «Nordwand» ausgebildet wurde und dort gelegentlich als freie Mitarbeiterin einspringt: Sie bestand 2007 als erste Frau in der Schweiz die Prüfung zur Level-1-Höhenarbeiterin und wundert sich bis heute, warum es nur wenige Frauen in diesem Beruf gibt. Gerade weil die Höhenarbeit Teilzeitarbeit erlaube, sei sie auch für Frauen geeignet, ist Geyer überzeugt. Sie steht auf dem Dach des BAZ-Hochhauses in Basel, in dem die Redaktion der Basler Zeitung untergebraucht ist.  An dessen Fassade will sie zusammen mit zwei Kollegen ein Werbeplakat anbringen: «Sobald ich auf meiner Schaukel im Seil sitze, gehört mir die Welt. Ich liebe den Ausblick in der Höhe und arbeite gerne an der frischen Luft.», sagt sie, die schon mit 13 ihren ersten Alpinistenkurs besucht hat.

Als sie 1995 als Zuschauerin in Berlin miterlebte, wie Seilarbeiter das spektakuläre Werk der berühmten Künstler Christo und Jeanne-Claude ausführten und den Reichstag verhüllten, war sie hingerissen: «Ich begriff, dass es diesen Beruf der Seilarbeiter gibt, dass also auch ich mein Hobby zum Beruf machen konnte.» Eine Matura hatte sie bereits in der Tasche, eine Ausbildung zur Schreinerin auch. Nun baute sich Karen Geyer parallel zu ihrer Tätigkeit als bildende Künstlerin mit der Seilarbeiter-Ausbildung ein weiteres berufliches Standbein auf.

In der von Männern dominierten Branche wurde sie von ihren Kollegen immer akzeptiert. Hier zähle nicht das Geschlecht, sondern handwerkliches und seiltechnisches Geschick und – vor allem – gegenseitiges Vertrauen, sagt sie. Darin liegt die Basis für die grosse Solidarität in der Höhenarbeiter-Szene und für die heiter-konzentrierte Stimmung, die in den Teams zu beobachten ist. «Kameradschaft und Vertrauen sind unerlässlich – denn wir arbeiten Hand in Hand und hängen unser Leben an ein Seil», sagt Roland Düsel, Inhaber der Firma «Höhenarbeit.ch» in Grabs SG. Auch unter den Höhenarbeiter-Firmen herrsche Solidarität: «Wir sind vernetzt, tauschen uns in Fachfragen aus, vermitteln uns gegenseitig gute Freelancer.»

Düsel gehört wie Lavignac zu den Pionieren in der Schweizer Szene, bildet regelmässig Höhenarbeiter aus, ist oft in der anspruchsvollen Felssicherung tätig und hat mit seinen Teams einige der spektakulärsten Einsätze in der Schweiz ausgeführt: Sie brachten beispielsweise 2009 die weltweit grösste Schweizer Fahne am Säntis an und befestigten dabei 120 x 120 Meter Stoff am Felsen. Ebenso verhüllten sie 2007 zum Jubiläum der Gotthardbahn die Kirche in Wassen UR.

Solch abenteuerliche Arbeiten ziehen Medien und Publikum an. Ebenso staunen Passanten, wenn das «Nordwand»-Team an der Fassade des Kultur- und Kongresszentrums KKL Luzern Unterhaltsarbeiten ausführt. Und es stutzen die Studierenden in der Universitätsbibliothek Zürich, wenn hoch über ihnen an der Aussenwand der Kuppel eine angeseilte Putz-Equipe kraxelt.

Die härtesten Einsätze der Höhenarbeiter nimmt die Öffentlichkeit indes kaum zur Kenntnis: Etwa der Bau von Hochspannungsleitungsmasten im Linthtal GL, bei dem die Seilarbeiter der Eduard Steiner AG tonnenschwere Elemente vom Helikopter entgegen nehmen, millimetergenau zusammenfügen – in Höhen von bis zu neunzig Metern, auf Masten, die in jener Arbeitsphase noch schwanken: «Es ist faszinierend, wie schnell und präzis die Zusammenarbeit zwischen den Seilarbeitern und der Helikopter-Crew abläuft», sagt der bekannte Schweizer Fotograf Röbi Bösch, der für die Schweizer Familie zu den Seilarbeitern hinauf gestiegen ist.

Während sich Bösch als erfahrener Extremalpinist beim Pilatus Kulm oder in der Zürcher Universitätsbibliothek noch routiniert ins Seil gehängt hat, ist er bei der Arbeit auf dem Masten enorm gefordert: «Die Arbeiter da oben sind extrem ausgesetzt.“: Sie arbeiten auf Höhen bis zu neunzig Metern, nehmen tonnenschwere Elemente vom Heli milimentergenau entgegen; der Mast schwankt, der Helikopter knattert ohrenbetäubend und wirbelt viel Wind auf.

Die Männer auf den Hochspannungsleitungen im Linthtal leisten Knochenarbeit in einer Welt des tonnenschweren Stahls – das kann nur bei einem perfekt eingespielten Team funktionieren. Bei Wind und Wetter bauen diese Höhenarbeiter auf Biegen und Brechen die Masten auf. Chefmonteur Heiri Rhyner, 50, gelernter Kabelbaumonteur, ist zufrieden mit dieser Aufgabe: «Wir haben Abwechslung, wir müssen und können improvisieren, das ist eine spannende Herausforderung.» Seine Mitarbeiter, viele von ihnen sind Wochenaufenthalter aus Norditalien, geben sich pragmatisch: «Wir tun einfach, was zu tun ist», erklärt Gruppenleiter Davide Bazzi 48, dem in jungen Jahren ein tonnenschweres Element ein Bein gebrochen hat. «Risiko gibt es überall», sagt er mit einem Achselzucken, «aber wir Höhenarbeiter gehen bewusster damit um.»

Das Vorhersehen von Gefahren ist die Grundlage für jeden Einsatz. Duncan Cown, ein ehemaliger Freelancer von «Nordwand», sagt: «Ich bin kein Draufgänger, gehe keine Risiken ein, sondern plane genau und arbeite vorausschauend.» Der 36-Jährige zieht inzwischen selbstständig erwerbend durch die Welt: Zu Ölplattformen in Fernost, zu Windturbinen in der Nordsee – an Orte, wo er mit explosiven, giftigen Gasen oder stürmischer See rechnen muss. Er komme viel herum, arbeite mit tollen internationalen Teams, sagt der in Bonstetten ZH wohnhafte Neuseeländer.

Den internationalen Geist ihrer Kollegen schätzt auch Karen Geyer. Die gebürtige Deutsche lebt in Zürich und New York: Ihre Arbeitskollegen kämen meist aus verschiedenen Ländern, würden wie sie gerne reisen, ihre Offenheit wirke sich positiv aufs Arbeitsklima aus. «Wir arbeiten oft nebeneinander in Bahnen, unser Tun ist nie hektisch, das wäre sonst gefährlich. Darum können wir uns während der Arbeit auch mal gut in aller Ruhe miteinander unterhalten.»

Sie steigt in ihren Gurt, klettert über den Dachrand des Hochhauses in Basel und gleitet in die Tiefe. Mit ihren Kollegen spannt sie ein Werbe-Banner über die ganze Breite des Gebäudes. Es propagiert Nervenkitzel total, zeigt Vergnügte, die in einer Achterbahn kreischend dem Abgrund entgegen rasen. Karen Geyer macht sich ruhig neben dem Plakat zu schaffen – zwanzig Meter über dem Boden, als ob es das normalste der Welt wäre.

Original-Text (PDF) und Editorial in der Schweizer Familie

Industriekletterer Laurent Lavignac beim KKL Luzern

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