Leseproben und Projektbeschriebe

Sexueller Missbrauch: Portrait einer Betroffenen

Sexuell missbraucht, schon als Säugling vom Vater benutzt und missachtet… Und nun seelisch verkrüppelt? Die Geschichte von Barbara beweist das Gegenteil.

«Kürzlich sassen wir beisammen und plauderten, meine Schwester und ich. Sie ist nun 27 Jahre alt, verheiratet, hat einen kleinen Sohn, ich bin 24, lebe seit kurzem mit meinem Freund zusammen. Wir redeten über sexuelle Erfahrungen, irgendwas, ich erinnere mich nicht genau. Jedenfalls machten wir Witze darüber, wie erfahren wir doch seien, plötzlich musste meine Schwester lachen, 'ist doch logo', sagte sie 'wir haben ja auch schon früh damit angefangen, hahaha…'».

Barbarba war noch ein Säugling, als ihr Vater sie sexuell missbrauchte, ihre Schwester war vier oder fünf Jahre alt. Was er dabei im Detail tat, wissen die beiden Frauen nicht. Ihre Seele hat es nicht zugelassen, die schmerzhaften Geschehnisse ins Bewusstsein aufzunehmen. Im Unbewussten aber ist die Tat des Vaters gespeichert, «als etwas unendlich Böses und Falsches», sagt Barbara «als ein inneres Monster, das mich aufzufressen droht.»

Barbara aber kann kämpfen und dem Monster Einhalt gebieten. Heute kann sie manchmal sogar lachen über das, was ihr Leben so grundlegend geprägt hat. Davor aber waren der Hass auf sich selbst, das Selbstmitleid, die Abschiedsbriefe für den Selbstmord. Raus aus ihrem verdammten Körper wollte sie, raus aus dem Fluch ihrer Nächte, wo sie über zerstückelte Leichen steigen musste, über abgehackte Glieder, gefoltere Kreaturen – über all die Emotionen, denen ihr Unbewusstes eines Tages doch noch Bilder gegeben hatte.
Heute ist sie stolz, dass sie ihre Dämonen bezwungen hat. Sie sagt, sie sei dankbar, für das, was sie ist, kann und hat. Nein, sie würde ihr Leben nicht tauschen wollen. Nicht mehr. Es sei zum Teil beschissen gewesen, sehr sogar, aber ohne all das wäre sie nicht die, die sie heute sei. Alles im Leben sei wohl für etwas gut… So sei sie etwa durch ihre Geschichte sensibler und reifer geworden, habe bessere Antennen für die Probleme anderer Menschen bekommen.

Barbara wirkt zart, aber zäh, das Gesicht offen und hübsch, mit hellen, klaren Augen. Sie wohnt in einer Stadt nahe von Zürich, arbeitet in einem kreativen Beruf, hat zwei, drei Beziehungen hinter sich, will irgendwann vielleicht mal Familie. Was auffällt, ist ihr herbes Lachen, ihr trocken-sarkastischer Humor.

Ohne Groll erzählt sie aus ihrem Leben, ganz ruhig der Redefluss, die Gedanken gesichert durch ein Auffangnetz aus Psychologie, dem Glauben an sich selbst und der Kraft aus Gebeten. Ohne sichtbare Regung berichtet sie von jener lähmend-dunklen Angst, unter der sie als Kleinkind gelitten habe, dann wenn der Vater das tat, was «einfach sehr falsch war». Trocken ihr Lachen, als sie schildert, wie sie als Teenager später «dennoch alles tat, um vom Vater ein Fünklein Liebe zu ergattern». Für einen Moment schliesst sie die Augen und lächelt schwach, als sie sich an den Tag zurückerinnert, an dem sie als erwachsene Frau zu ahnen begann, das mit ihr etwas nicht stimmt… Erst als sie von ihrer Suche nach der Wahrheit berichtet, verrät das Gesicht Schmerz, wird die Stimme bewegter und die Erzählung sprunghafter.

Ganz bewusst will sie ihre Geschichte veröffentlichen, will dort weitergehen, wo die Medien meistens aufhören: Bei den Betroffenen und deren Aufarbeitung. «Ich möchte erzählen, was mit uns 'Opfern' geschieht», sagt Barbara, «ich möchte Mut machen. Denn man ist als sexuell Missbrauchte kein seelischer Krüppel und ein Leben lang geschädigt. Doch der Weg der Aufarbeitung ist ein langer, sehr schmerzhafter Weg.»

Sie wurde als Zwanzigjährige jäh auf diesen Weg gestossen. Es war ein ganz gewöhnlicher Abend, sie sass mit ihrem Vater und der Stiefmutter beim Abendessen, und in der Tagesschau zeigten sie einen Kinderschänder, einen «huere Sauhund», wie der Vater zornig rief. Barbara durchfuhr es wie ein Blitz, es war ein brutales Aufflackern verdrängter Vergangenheit, als ihr dieses «Du-verdammter-Heuchler!« durch den Kopf schoss, ein jäher Gedanke, scharf und unerträglich. Undenkbar – und nun doch gedacht.

Nie hatte sie geglaubt, an ihr sei sexueller Missbrauch geschehen, nie hatte sie je den Vater für sowas verdächtigt. Er war für sie zwar immer angsteinflössend, abstossend gewesen, ein «Monster«. Aber das fand sie normal, «ich kannte ja nichts anderes.« Als sie klein war, arbeitete der Vater tagsüber, die Mutter nachts. Die Familie hatte Angst vor dem unglücklichen, jähzornigen Mann, der meist herumschrie, Frau und Kinder schlug. Schlimm wars, wenn die Mutter arbeitete, dann war er mit den Mädchen allein. Zwar liessen sich die Eltern scheiden als Barbara 5jährig war, doch die Mutter war mit den Töchtern überfordert und gab sie später zurück zum Vater und dessen neuer Freundin. Die Kinder hatten grosse Angst, mussten dennoch zu ihm, weinten Tag und Nacht, schliefen nicht und klammeren sich im Bett aneinander. Klassisch verstörte Scheidungskinder, so glaubte man. Mehr ahnte man nicht. Mit der Zeit fand Barbara immerhin bei der Stiefmutter etwas Wärme und Vertrauen. Vom Vater indes hat sie keine Liebe erfahren, nie hat er sie mal umarmt, nie mit ihr gespielt oder ihr ein Märchen erzählt. Mit ihm konnte sie höchstens mal über Politik diskutieren. Er war Linker, Grüner, Mitglied bei einigen Tierschutzverbänden.

Und nun durchfuhr sie dieser undenkbare Gedanke: Der Vater auch ein Kinderschänder? Nein! Barbara ist geschockt, will das Bild verdrängen. Nicht ich. Nicht mein Vater! Schon stolpert sie auf ihren langen, schweren Weg. Unausweichbar die Wegweiser, die fortan auftauchen: Eine unerklärliche, plötzliche Trauer mitten im Liebesspiel mit ihrem Freund. Jahrelang hat sie normalen Sex gehabt und nun dies. Tränen und Tränen, immer wieder. Wurde sie tatsächlich sexuell missbraucht? Sie zweifelt an allem – vorallem an sich. Fragen drehen ohne Unterlass in ihrem Innern. Hass steigt auf. Hass auf alles, selbst auf die Hilflosigkeit des Freundes, dem sie ihren Verdacht erzählt hat. Ein Grauen erfasst sie vor dem, das da lauern könnte, vor den Abgründen tief ihn ihr. Den Freund muss sie nun «loswerden». Er nervt total. Alles nervt.

Die nächste Etappe ist Weihnachten, ein Pflichtabend bei der Mutter. Diese ist betrunken, will Barbara über ihren Vater «aufzuklären«, der habe perverse Neigungen, erzählt sie, mal habe man ihn erwischt, als er mit seiner eigenen Schwester geschlafen habe. Seine Frau habe er vergewaltig und er habe von ihr verlangt, dass sie ihn wickle – Barbara wird nun eines unausweichlich klar: Er wars. Beim Wickeln hat ers getan, später kann sich auch Barbaras Schwester wieder daran erinnern. Penetriert hat er die Kinder nicht, und doch diagnostizierte einst eine Gynäkologin bei der 12jährigen Schwester eine Entzündung der Gebärmutter, die laut Ärztin, in Folge von Geschlechtsverkehr entstehe. «Er hat Orales gemacht», sagt Barbara, «zwischen den Beinen gerieben und so; Dinge, die man mit einem Kleinkind halt so machen kann…»

Almählich dämmert es Barbara, wieso sie schon als kleines Mädchen oft und zwanghaft onanieren musste und wieso sie dabei immer ans Wickeln gedacht hatte. Sie geht nun durch Höllen, schämt sich, findet sich mangelhaft, hasst sich, tappt hilflos umher, «wie in einem dunklen Zimmer, worin man den Lichtschalter nicht findet». Schliesslich stösst sie auf das Fachbuch «Seelenmord» von Ursula Wirz und erkennt sich darin «tausend mal» wieder.
Nun geht es Schlag auf Schlag. Barbara weiss jetzt, dass es tatsächlich geschehen war, und sie beschliesst, nicht ein Leben lang unter den Folgen zu leiden. So will sie nur noch eines: Normal sein. Sie beginnt eine Psychotherapie, die schon nach der ersten Stunde «hueräguat» tut. Endlich hört ihr jemand zu, ohne geschockt zu sein. Die wöchentliche Therapiestunde wird zur Boje im Meer, an die sie sich dankbar klammert.

Aber die Gespräche lassen auch die längst verdrängten Bilder auferstehen. Als Barbara in der Folge zum ersten Mal den Missbrauch im Traum «wiederdurchlebt», betet sie zum Schluss nur noch darum, sterben zu dürfen. Die Therapeutin hat Erklärungen, kann helfen und Barbara lernt, dass ihr Verhalten normal ist. Sie lernt auch, wie sie dem Unterträglichen mit dem Verstand begegnen kann. Nach der Wut und dem Hass auf den Vater, folgt nun die Trauer um ihn: «Meinen Vater gibt es für mich nicht mehr. So musste ich neben dem Missbrauch auch diesen Verlust verkraften. Es wäre viel leichter, wenn es ein anderer Mann gewesen wäre.»

Barbara beginnt zu malen, tief aus dem Unbewussten heraus (siehe Box). Mit der Schwester, ihrer Vertrauten, hat sie längst über den Missbrauch geredet. Nun informiert sie ihren Halbbruder, ein Sohn ihres Vater, der auch von ihm missbraucht wurde. Doch er mag sich nicht damit auseinandersetzen und bricht den Kontakt zu Barbara ab. Sie spricht mit ihrer Mutter, die bloss ein müdes «also doch…» von sich gibt; sie trifft ihre Ersatzmutter, die Stiefmutter, die sich daraufhin von ihr abwendet. Die Wahrheit schmerzt sie alle zu sehr, als dass sie es glauben mögen, aber Barbara erwartet kein Verständnis, sie will bloss «reinen Tisch machen». Dem Vater schreibt sie mit ihrer Schwester einen Brief. Von ihm hört sie nie mehr was.

Im Kino sieht sie später den dänischen Film «Vesten»: Da wird ein Vater 60, lädt die ganze Grossfamilie zum Fest. Sein Sohn hält beim Essen eine Rede, in der er plötzlich und völlig unerwartet den Vater anklagt, seine Kinder immer wieder vergewaltigt zu haben… Ein Schocker. Das Kinopublikum schweigt beklommen, nur eine lacht lauthals: Barbara. «So geil, was der macht», sagt sie und freut, weil «der so mutig ist«. Die Filmfamilie fesselt den Sohn an einen Baum, damit er endlich schweigt. «Typisch», sagt Barbara, «man weist die Wahrheit von sich, weil sie zu unerträglich ist. Der Sohn im Film war darauf zu wenig vorbereitet. Ich hingegen war darauf gefasst, meine Therapeutin hatte mich davor gewarnt.»

Nach einem Jahr beendet sie ihre Therapie, und will nun alles hinter sich haben. Als sie sich ein Jahr später dabei beobachtet, wie sie ihren Selbstmord immer genauer plant, will sie sich partout nicht eingestehen, dass sie einen Rückfall hat. Schliesslich rettet sie sich doch noch zu ihrer Therapeutin, sitzt da als ein heulendes Nichts verstrickt in eine Erschöpfungsdepression, die ihr jede Lebenskraft gefressen hat. Sie wird einen Monat krankgeschrieben, lernt nur widerwillig, auch ihre Rückfälle zu akzeptieren und mit ihnen zu leben, denn «man kann das Monster nicht töten, man kann es nur bezämen».

Barbara fängt sich immer wieder, immer besser. Im vergangenen Sommer verliebt sich neu, zieht zum ersten Mal mit einem Freund zusammen. Sie schafft es, erstmals in ihrem Leben ganze Nächte durchzuschlafen, hat ihre Schwester dazu motiviert, auch eine Therapie anzufangen, denn «man braucht mehr Kraft um gegen seine Probleme anzukämpfen, als um sie aufzuarbeiten». Sie selbst hat ihr Ziel erreicht, weiss, wie sie fortan ihren dunklen Attacken begegnen kann. Nächstes Ziel? «Glücklich werden« sagt sie und korrigiert sogleich «nein glücklich bleiben».

 
Stationen des Weges

Aufarbeitung durch Therapie und Malen: Barbara wählte diesen Weg, malte ohne Ziel und Absicht, staunte dabei jedes mal, wieviel ihr Inneres ihr mit den Bildern mitgeteilt hatte.
1. Bild: «Seelenmord»: Sexueller Missbrauch ist Seelenmord. Dieses Bild zeigt meinen Blick in die Hölle, durch die ich musste, als ich meine Therapie anfing.
2. Bild: «Das Grab»: Erst wollte ich eine Frau malen, aber sie wurde so hässlich, dass ich sie begraben musste, ich gab ihr ganz schöne Blumen. Es ist, als ob ich so meinem inneren, verletzten Kind ein schönes Plätzchen geben konnte.
3. Bild: «Die Trauer»: Ich malte einen schönen Bilderrahmen, wollte dann etwas da hineinsetzen, hatte aber absolut keine Idee. Irgendwann war klar: Schwarz musste da rein. Schwarz für meine Trauer, der Rahmen, um dem Schmerz erträglicher zu machen.
4. Bild: «Dämon»: Diese Bild hängt in meinem Schlafzimmer. Es ist mein innerer, hässlicher Dämon, der an mir nagt, mich nicht schlafen lässt. Ich habe ihn nun auf die Leinwand gebannt und hoffe, er bleibt dort.

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