Leseproben und Projektbeschriebe

Lügenforscher Klaus Fiedler über die Unwahrheit

Blicken wir der Wahrheit ins Auge: Nicht einmal die Hälfte von dem, was wir sagen, ist wahr. Und genauso oft belügen wir uns selber – beispielsweise bei den Vorsätzen fürs Neue Jahr. Der Heidelberger Lügenforscher Klaus Fiedler erklärt warum.

Das Thema Lügen ist zeitlos. Ein Interview von 1994, das heute noch Gültigkeit hat. 
 
Herr Fiedler, sind Lügen grundsätzlich etwas Schlechtes?
Klaus Fiedler: Nein, obwohl die Lüge seit jeher Inbegriff für Unrecht und Sünde ist. Viele verstehen darunter einen vorsätzlichen, böswilligen Verstoss gegen die Regeln. Psychologische Lügenforscher stellen dieser Definition einen kommunikativen Ansatz der Lüge gegenüber.

Einen kommunikativen Ansatz?
Fiedler: Wir gehen davon aus, dass die Wahrheit in der Kommunikation eher die Ausnahme darstellt. Nur knapp 40 Prozent all unserer Alltagsäusserungen sind wahr.

Und demnach 60 Prozent gelogen?
Fiedler: Nicht im Sinne des kriminellen Lügens. Vorsätzliche, betrügerische Lügen spielen im Alltag kaum eine Rolle. Rund die Hälfte der Unwahrheiten sind prosozial gemeint.

Was verstehen Sie genau darunter?
Fiedler: Man weicht häufig von der Wahrheit ab, ohne es zu merken. Beispielsweise aus Höflichkeit, Bescheidenheit, Angst oder aber zur Selbstdarstellung. Ein Arzt verschweigt dem Patienten eine Krankheit, der Ehemann lässt die Frau im Glauben, er habe bis spät abends im Büro gearbeitet, jemand beschönigt sein Alter. Oder denken wir an all die Alltagsfloskeln. Auf die Frage 'Wie geht's?' antworten wir meistens mit 'Danke, gut' .

Bei all diesen Lügen müssten wir ein riesengrosses schlechtes Gewissen haben.

Fiedler: Nicht unbedingt. Wenn wir beispielsweise mit einem Bazarhändler um eine Ware feilschen, bekräftigen und beschwichtigen wir die Vorzüge und Nachteile des Produkts in beidseitigem Einverständnis. Häufig täuschen wir uns, machen uns etwas vor, über- respektive untertreiben oder geben gutgläubig falsche Informationen weiter – und weichen damit unbewusst von der Wahrheit ab. In solchen Fällen haben wir kein Unrechtbewusstsein, obwohl wir unter Umständen grobfahrlässig handeln.

Gibt es Lügner, die Sie verabscheuen?
Fiedler: Solche, für welche die Wahrheit bloss eine Requisite ist. Die "Machiavellis", die hinterlistig und vorsätzlich die Unwahrheit sprechen.

Wie erkennt man im grossen Lügenmeer die Wahrheit?
Fiedler: Indem wir einsichtig werden, und die Grenze der Lüge weiter ziehen. Wir müssen uns nicht mit der plumpen, eindeutig entlarvbaren Lüge befassen, sondern uns mit den subtilen, intelligenteren Formen beschäftigen. Man sollte die Wahrheitsüberwachung ständig an sich selbst üben und so lernen, die verschiedenen Facetten der Wahrheitsabweichung zu unterscheiden. So kämen viele von ihrem völlig unrealistischen, pharisäerhaften Wahrheitsbegriff los.

Wo liegt die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit?
Fiedler: Die verändert sich ständig. Sie und die gängigen Regeln müssen stets neu ausgehandelt werden. Das ist nötig, um überhaupt mit Regeln leben zu können. In der Öffentlichkeit beispielsweise wird über die Wahrheit stets neu verhandelt, im Geschäftsleben ebenso.

Aus diesen Bereichen sind Halbwahrheiten kaum wegzudenken.
Fiedler: Übertreibungen oder scheinbares Nichtwissen gehören zur beruflichen Kompetenz einzelner Berufsgattungen, beispielsweise von Anwälten und Politikern. Oder von Autoverkäufern. Diese werden sich hüten, im Verkaufsgespräch alle Mängel eines Wagens zu erwähnen. Sie lügen zwar nicht plump, indem sie behaupten, dieser habe sechs statt vier Zylinder. Sie verschweigen aber geflissentlich, dass ein Auto einen Unfall hatte. Die meisten wissen um solche Strategien und richten sich darauf aus.

Wie stark belügt man sich selbst?
Fiedler: Häufiger, als es vielen recht ist. Dazu ein Beispiel: Untersuchungen von Autounfällen haben gezeigt, dass da einiges im Argen liegt. Das Gedächtnis von Augenzeugen ist sehr schlecht. Fragt man zum Beispiel, ob ein Signal auf Rot gestand sei, sagen die Leute nach dem Unfall, dass sie gar kein Signal bemerkt hätten, korrigieren sich später und entscheiden sich für eine der Farben. Was ist geschehen? Um die Frage nach dem Signal beantworten zu können, mussten sie sich erst ein Signal vorstellen. Diese Imagination prägt sich besser ins Gedächtnis ein als der Rest. Monate später glauben Zeugen dann tatsächlich, ein Signal gesehen zu haben.

Selbsterzeugte Informationen prägen sich uns also am besten ein?
Fiedler: Ja, auf dieser Wissensbasis können teuflische Massnahmen ergriffen werden. Traurige Aktualität hat in dieser Hinsicht die Frage nach sexuellen Übergriffen erlangt. Vor allem in den USA werden Zeugen derart oft nach allfälligen Missbräuchen befragt, bis sich ihnen diese Vorstellung als Wahrheit einprägt. Das könnte zur Epidemie werden.

Suggestion kann sich aber auch positiv auswirken, beispielsweise bei den Neujahrsvorsätzen. Oder lügt man sich da ohnehin nur etwas vor?
Fiedler: Nicht unbedingt, Suggestion ist da ein guter Ansatz. Viele Leute nehmen sich etwas vor und erzählen es ihren Bekannten. Vor lauter Reden vergessen sie dann aber, dass den Worten Taten folgen müssen. Besser wäre es, die guten Vorsätze für sich zu behalten, diese dafür aber ständig zu überdenken und sich ernsthaft vorzustellen, wie es wäre, wenn die Vorsätze erfüllt würden. Durch diese Imagination und unentwegte Wiederholung des Vorsatzes gehen die Taten weniger vergessen.

Und was ist mit dem Selbstbetrug?
Fiedler: Es klafft eine breite Lücke zwischen der persönlichen Einstellung und der Wirklichkeit. Ein Beispiel: Viele Menschen sind gegenüber der Organspende positiv eingestellt. Sobald sie aber real damit konfrontiert werden, weil etwa ein Angehöriger stirbt, sind sie plötzlich dagegen. Oder: Ein Vierzehnjähriger will in die Disco, hat aber keine Fahrgelegenheit, folglich lässt er es bleiben. Jemand will Greenpeace unterstützen, hat aber weder Geld noch Zeit dafür.

Wie kann die Lücke geschlossen werden?
Fiedler: Je näher Vorstellung und Realität zusammen sind, desto grösser ist die Chance, dass es nach dem Gedanken zu einer Aktion oder Tat kommt. Die Leute sollen hingehen und sich das Waldsterben anschauen, wenn sie etwas für die Umwelt tun wollen, oder sie sollen mit armen Leuten und Arbeitslosen sprechen, wenn sie sich mit dem Abbau des Sozialstaats auseinandersetzen. Der Kontakt mit der Materie ist wirksamer als alle guten Vorsätze. Und dort, wo der direkte Kontakt nicht möglich ist, hilft die Imagination. Das alles schützt vor Selbstbetrug.

Was halten Sie denn von Lügendetektoren?
Fiedler: Gewiefte Gangster, deren Leben auf Lügen gebaut ist, wissen genau, wie sie einen Detektor hinters Licht führen können. Ich halte nichts von diesen Tests. Man tut so, als verfüge man damit über eine naturwissenschaftliche, messbare Methode. Man kann aber die Reaktionen des vegetativen Nervensystems noch nicht umfassend deuten.

Was heisst das?
Fiedler: Man kann nicht verlässlich feststellen, wie es zu einer Reaktion gekommen ist. Bei der Frage 'Haben Sie die Frau vergewaltigt?' beispielsweise kann es zu einer Reaktion kommen, weil der Befragte die Tat begangen hat. Vielleicht aber nur deshalb, weil ihn das Wort 'vergewaltigt' bewegt oder die Frage das Thema Sexualität anspricht. Der Tester stellt deshalb Kontrollfragen, mit denen er andere Tabu-Bereiche anspricht. Reagiert der Befragte auf die Ursprungsfrage stärker als auf solche Kontrollfragen, kommt man zum Schluss, dass er gelogen hat.

Das Verfahren steht und fällt also mit der Auswahl der Fragen?
Fiedler: Ja, und das scheint mir doch ziemlich willkürlich. Genauso wie die Interpretation davon. Die Befragung per Detektor ist nicht besser als jene mit einem geschulten und erfahrenen Fragesteller. Statistisch gesehen kann ein Detektor etwa 65 Prozent richtig klassifizieren. Das aber kann ein Mensch mit Intuition auch.

Das Lügen ist sein tägliches Brot

Klaus Fiedler, 45, ist Professor für experimentelle Sozialpsychologie an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Als Lügenforscher untersucht er Wahrheitsgehalt, Lügendetektion und Wahrheitsüberwachung in der alltäglichen Kommunikation. Eines seiner Anliegen ist, sein Fachgebiet möglichst interdisziplinär zu erforschen. So hat er in Heidelberg eine Arbeitsgruppe gegründet, der nebst psychologischen Lügenforschern auch Gerichtsmediziner, Juristen, Mediziner und Psychiater angehören.

 

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